Studie berichtet von einer sozialer Schicht der "neuen Armen"

"Handfester Skandal"

In der Bundesrepublik ist nach einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung eine neue gesellschaftliche Schicht "abgehängtes Prekariat" entstanden. Danach leiden acht Prozent der Bevölkerung unter Arbeitslosigkeit oder fürchten den Verlust des Jobs und finanzielle Engpässe, berichtet "Bild am Sonntag".

 (DR)

In der Bundesrepublik ist nach einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung eine neue gesellschaftliche Schicht "abgehängtes Prekariat" entstanden. Danach leiden acht Prozent der Bevölkerung unter Arbeitslosigkeit oder fürchten den Verlust des Jobs und finanzielle Engpässe, berichtet "Bild am Sonntag". Die neuen Armen zeigten "ausgesprochene Verunsicherung", fühlten sich im sozialen Abseits und vom Staat alleingelassen, heißt es weiter. Selbst in den eigenen vier Wänden hätten sie "kaum das Gefühl, ihr Leben weitgehend selbst bestimmen zu können". Viele glaubten, die "Abschottung gegenüber Ausländern" löse ihre Probleme. Hören Sie einen Beitrag zu den Ergebnissen der Studie und ein domradio-Interview mit Prof. Dr. Georg Cremer, Generalsekretär des deutschen Caritasverbandes, zu den Ursachen der neuen Armut.

"Handfester Skandal"
Nach Angaben der BamS bewertet die SPD-Spitze die Ergebnisse der Studie als "handfesten gesellschaftlichen Skandal". Sie sollen jetzt in die Debatte um das neue Grundsatzprogramm der Partei einfließen. Parteichef Kurt Beck wolle einen "Bildungsaufbruch" organisieren, um den Kindern der "Unterschicht" den Aufstieg zu ermöglichen. Beitragsfreie Kindergärten und der Ausbau von Ganztagsschulen seien Teil der Pläne.

SPD-Generalsekretär Hubertus Heil sagte der Zeitung, seine Partei wolle "eine neue Philosophie" für den Sozialstaat erarbeiten. Die neue Armut sei nicht nur materielle Armut, sondern auch eine Armut an Bildung, Kultur und an Chancen auf ein gesundes Leben.
Heil betonte, weder Beck noch die SPD machten sich den Begriff "Unterschichten" zu eigen, um die Menschen nicht zu "stigmatisieren".

Merkel: Nicht abfinden mit sozialer Spaltung
Die Bundesregierung wird sich nach den Worten von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht damit abfinden, dass in der Gesellschaft soziale Spaltungen existieren. Das Thema habe indirekt auch beim Spitzengespräch im Kanzleramt über eine familienfreundliche Wirtschaft eine Rolle gespielt, sagte Merkel am Montag vor Journalisten im Anschluss an das Treffen in Berlin. Die Probleme hingen eng mit dem Thema Familie zusammen.

Es müsse darum gehen, allen Kindern schon in früher Kindheit Chancen auf Bildung und Fortkommen zu eröffnen. Das Risiko, arbeitslos zu werden, sei am höchsten, wenn Menschen keine Ausbildung durchlaufen hätten, sagte die Kanzlerin.

Die SPD-Familienpolitikerin Kerstin Griese forderte ihre eigene Partei auf, sich konsequenter für die Chancen von Kindern einzusetzen. Armut gehe mit einem bedrückenden Fehlen an Bildungschancen einher. Die Bildungsreform der 70er Jahre habe Gymnasien und Hochschulen geöffnet. Nun komme es darauf an, alle Kinder schon in Kindergärten und Grundschulen zu fördern, um Chancengleichheit zu erreichen.

Der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Oskar Lafontaine, warf der SPD-Linken vor, der frühere Kanzler Gerhard Schröder habe erst mit ihren Stimmen seine «asoziale Arbeitsmarktpolitik» umsetzen können. Sie trage Mitverantwortung für das Elend von Millionen Menschen in Deutschland. SPD-Linke hatten zuvor in der so genannten Unterschichten-Debatte die Politik der früheren Schröder-Regierung angegriffen.

Der sozialpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Markus Kurth, forderte die Bundesregierung auf, die Armutsbekämpfung zum vorrangigen Ziel ihrer Politik zu machen. So müssten Sozialämter und Jobcenter die Möglichkeit erhalten, Kindern und Jugendlichen, deren Eltern von Hartz IV leben, Sportkurse, Musikunterricht, Lernmittel und warme Mahlzeiten in Schulen und Kindergärten zu finanzieren. Dies sei bisher nicht möglich. Das Parlament stimmt in dieser Woche über einen entsprechenden Antrag der Grünen ab.

Hartz an allem Schuld?
Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) setzte sich ebenfalls für „konkrete Hilfen" besonders für Kinder, Jugendliche und Arbeitslose ein. Kauder betonte, das Phänomen gebe es seit etwa zehn Jahren als Folge der Massenarbeitslosigkeit, die Politik habe es jedoch unzureichend wahrgenommen.

Auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun, forderte mehr Bildung. In den vergangenen Jahren seien viele Fehler gemacht worden, die zu einer „vererbten Bildungsarmut" geführt hätten.

Für FDP-Generalsekretär Niebel ist die Angst vor Verarmung breiter Schichten ebenfalls ein Ergebnis der „Hartz"-Reformen. Zugleich fordert er, Sanktionsmöglichkeiten gegen Arbeitsunwillige konsequenter als bisher auszuschöpfen. Eine generelle Kürzung der Leistungen aber lehne er ab.

Der frühere CDU-Generalsekretär Geißler forderte seine Partei auf, sich „zum Anwalt der Abgehängten und Resignierten zu machen". Die weit verbreitete Hoffnungslosigkeit sei „die Folge von 'Agenda 2010' - einer SPD-Politik, mit der die Seele der Partei verraten wurde".

Sozialethiker: Abwärtsspirale trotz so genannter Reformen
Für den Frankfurter Sozialethiker Friedhelm Hengsbach ist die Schere zwischen Reichen und Armen in Deutschland in den vergangen Jahren immer stärker auseinander gegangen. Die als Reformen proklamierten sozialen Änderungen wie Hartz IV hätten die Abwärtsspirale für die unteren 20 Prozent der Bevölkerung nicht gestoppt, sagte Hengsbach am Montag in Frankfurt der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) zu der Debatte über neue Armut in Deutschland. Am jährlich wachsenden Reichtum in der Bundesrepublik sei nur ein kleiner Bevölkerungskreis von zehn Prozent beteiligt.

Die Ergebnis einer Studie, wonach acht Prozent der Menschen zu einer neuen gesellschaftlichen Unterschicht gehörten, überraschten ihn keineswegs, sagte der Jesuitenpater. Schon der vor eineinhalb Jahren vorgelegte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung habe die weitere Verarmung der unteren Schichten aufgezeigt. Der Sozialstaat sei nicht umgebaut, sondern abgebaut worden. Bei den armen Menschen muss man laut Hengsbach unterscheiden, ob es Menschen ohne Arbeit seien oder solche in prekären Situationen wie zum Beispiel Teilzeitarbeiter. Die Bezeichnung "Unterschicht" sei zweitrangig, entscheidend sei die Armut großer Bevölkerungsteile.

Caritas-Chef: Politik muss Ausgrenzung in der Wurzel angehen
Der Deutsche Caritasverband hat die Politik zu mehr Engagement gegen Armut und soziale Ausgrenzung aufgefordert. "Ausgrenzung muss in der Wurzel angegangen werden", sagte Caritas-Chef Peter Neher am Montag in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin. So seien mehr Bildungsarbeit bereits im Kindergarten und Jugendsozialarbeit in Schulen notwendig. Nachdrücklich warnte der Prälat die Politik davor, benachteiligte Menschen weiter zu stigmatisieren, und nannte die Redeweise vom "Sozialstaatsmissbrauch" als negatives Beispiel.

Neher sprach von einer mittlerweile großen Gruppe in der Gesellschaft, "die sich abgehängt fühlt und ausgegrenzt wird".
Neben benachteiligten Kindern und Jugendlichen ohne Schulabschluss und Ausbildungsperspektive seien dies vor allem ältere Arbeitslose. Erforderlich sei eine Debatte, wie diese Menschen wieder in die Gesellschaft integriert und ihnen neue Perspektiven aufgezeigt werden könnten. Es gehe auch um vorbeugende Arbeit. Jedes Jahr verließen 15 Prozent der Schulabgänger die Schule ohne Abschluss, bemängelte er. Der Caritas-Präsident bekräftigte auch die Forderung des Verbandes nach einem Kombilohnmodell, um gering qualifizierten Menschen einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Pauschale Kritik an der Hartz-IV-Regelungen, wie sie im Zuge der neuen Debatte um "Unterschichten" laut wird, wies Neher zurück. Bei aller berechtigten Kritik an einzelnen Elementen von Hartz IV habe dieses Gesetzespaket dazu beigetragen, 1,3 Millionen bislang verdeckt Armen Zugang zu Sozialleistungen zu verschaffen.

Caritas will Benachteiligten Stellen bieten
Neher kündigte an, 2007 wolle die Caritas durch die Kampagne "Mach dich stark für starke Kinder" besonders auf die Situation benachteiligter Kinder und Jugendlicher aufmerksam machen. So wolle der Verband auch gezielt nach Möglichkeiten suchen, für Jugendliche ohne Schulabschluss in seinen Einrichtungen Ausbildungs-, Praktikums- und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Bereits seit 2005 widme sich eine Befähigungsinitiative benachteiligten Kindern und Jugendlichen.
(epd,kna,dr)