Steinmeier besucht Begegnungszentrum in Rostock-Lichtenhagen

"Die Scham überwinden"

30 Jahre nach den rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen nahm sich Bundespräsident Steinmeier Zeit, um über die Vergangenheit zu sprechen. Und über das Zusammenleben in der Gegenwart.

Autor/in:
Anja Goritzka
Gedenkveranstaltung mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Rostock-Lichtenhagen / © Jens Büttner (dpa)
Gedenkveranstaltung mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Rostock-Lichtenhagen / © Jens Büttner ( dpa )

Bei seinem Besuch in Rostock-Lichtenhagen zum 30. Jahrestag der rassistischen Ausschreitungen kam Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag nicht nur zur offiziellen Gedenkstunde im Rostocker Rathaus. Zuvor nahm er sich die Zeit, im Lichtenhagener Stadtteil- und Begegnungszentrum (SPZ) mit zwei ehemaligen Bewohnern von 1992 sowie mit drei Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Julia Szymanski, Musa Nawotny-Sen und Marvin Wegener besuchen die zehnte Klasse der Hundertwasser Gesamtschule.

Integrationsbeauftragte sieht Rechtsextremismus als größte innere Gefahr 

Anlässlich des Gedenkens an die rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren hat die Integrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan Anstrengungen der Bundesregierung im Kampf gegen den Rechtsextremismus zugesagt. "Der Rechtsextremismus ist weiterhin die größte innere Gefahr", sagte die SPD-Politikerin am Donnerstag im ZDF-"Morgenmagazin". "Das gehen wir aber auch als Bundesregierung an." 

Demonstration gegen Rechtsextremismus / © Uwe Zucchi (dpa)
Demonstration gegen Rechtsextremismus / © Uwe Zucchi ( dpa )

"Natürlich hört man mal was von den Erwachsenen, aber als Kind hat man das nicht wirklich hinterfragt", so Julia Szymanski. Auch Musa Nawotny-Sen stimmt dem zu, obwohl er als Kind zusammen mit seinem Bruder eine Dokumentation über die Ereignisse im Fernsehen gesehen habe. Auf Nachfrage Steinmeiers bestätigt er, dessen Vater aus der Türkei stammt: "Hier ist nichts mehr. Es ist egal, woher du kommst, wer du bist, woher deine Familie kommt." Mit rassistischen Anfeindungen hat er in seinem Alltag nicht viel zu tun. "Ich kann mir aber schon vorstellen, dass so etwas wieder kommt", wirft er ein.

Steigende Einwohnerzahl

Für den Oberbeiratsvorsitzenden von Lichtenhagen, Ralf Mucha, ist ein mahnendes Erinnern wichtig, nicht nur an Jahrestagen wie 2022. "Ja, es gehört zum Stadtteil, aber das ist nicht Lichtenhagen, wie es heute ist", betont Mucha. Rostock-Lichtenhagen sei aber viel mehr, habe sich seitdem verändert und werde sich auch weiterhin verändern. Das zeige schon die steigenden Einwohnerzahl. Vor der Wendezeit lag sie noch bei 19.000 und sank nach der Wiedervereinigung auf 10.000. "Heute jedoch leben wieder fast 14.000 Menschen hier", so Mucha. Der Stadtteil nehme am Programm "Sozialer Zusammenhalt" teil und entwickle sich weiter.

Der Bundespräsident räumt ein: "Es war nach 1992 sicherlich schwierig hier. Ich kann mir vorstellen, dass sich Risse durch Familien und Wohnblöcke zogen." Mucha, der schon damals hier lebte, bestätigt dies: "Mit meinem jetzigen Wissen und Erfahrungen habe ich eine ganz andere Draufsicht auf die Geschehnisse. Damals klatschte ich nicht mit, schaute auch nicht zu, aber ich fragte bei den Verantwortlichen auch nicht um Hilfe." Er habe sich ohnmächtig gefühlt. Bei vielen Anwohnern sei heute noch eine große Scham zu spüren, Sprachlosigkeit angesichts dessen, was geschehen war.

Gesprächsfähigkeit ermöglichen

Zur Überwindung dieser Scham und auch, um Gesprächsfähigkeit zu ermöglichen, initiierte Quartiersmanagerin Lisa Radl in diesem Jahr zusammen mit dem vietnamesischen Verein "Dien Hong - Gemeinsam unter einem Dach" Gesprächskreise unter dem Titel "Lichtenhäger im Gespräch", die im Vietnamesisch-buddhistischen Tempel stattfanden. Sie selbst kam erst vor vier Jahren nach Rostock und hat schnell gemerkt, dass es schwer ist, über die Ereignisse zu sprechen. "Es ist mit Angst belastet, mitunter eine offene Wunde und ein Trauma", erläutert sie im Gespräch mit dem Bundespräsidenten. Doch auch sie bestätigt, dass Lichtenhagen mehr zu bieten habe als das Pogrom von 1992. "Wenn wir miteinander ins Gespräch kommen, bleiben wir auf Augenhöhe", findet Radl.

Miteinander ins Gespräch kommen und vor allem einen Ort für alle Generationen schaffen möchte auch die Leiterin des Stadtteil- und Begegnungszentrums (SBZ), Hanka Bobsin. Seit 2004 ist das Lichtenhager SBZ in Trägerschaft der katholischen Kolping-Initiative. Das Hauptaugenmerk liege aber immer noch auf der aktiven Jugendsozialarbeit. Schon vorher gab es, auch in Reaktion auf die rassistischen Ausschreitungen, einen Jugendtreff, der bis 2003 von Wolfgang Demuth vom Verein "Jugendwohnen HRO" geleitet wurde. Die Kolping-Iinitiative betrieb damals in Rostock-Lichtenhagen schon ein betreutes Wohnen für Jugendliche und Schulsozialarbeit.

Das von Demuth geleitete Jugendcafe wurde im Rahmen des "Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt" eingerichtet. "Die meisten Jugendlichen damals waren in einer Findungsphase. Wir haben versucht, sie alle aufzufangen, ob sie jetzt links oder rechts waren, von der Hauptschule oder vom Gymnasium kamen", berichtet Demuth. Der Geist, alle so wie sie sind, wenigstens zu tolerieren, sei auch in Trägerschaft der Kolping-Initiative erhalten geblieben.

Quelle:
KNA