Fast wie ausgestorben wirkt an diesem Vormittag Winnenden. Im Zentrum der 28.000-Einwohner-Stadt im Rems-Murr-Kreis, wo ansonsten samstags ein großer Wochenendmarkt das Leben prägt, haben bis auf die Bäckereien alle Geschäfte geschlossen. Zettel mit der Aufschrift "Trauertag Samstag geschlossen" hängen in den Fenstern; die Bäume in der Fußgängerzone tragen große schwarze Schleifen. Mit einem Gottesdienst und einem Staatsakt haben die Menschen an diesem Tag der 16 Toten, die vor zehn Tagen beim Amoklauf von Winnenden und Wendlingen starben.
Nur in Gruppen kommen die Trauergäste zur Karl-Borromäus-Kirche. Die größte Gemeinschaft bilden Schüler und Lehrer der Albertville-Realschule, an der das Massaker vor zehn Tagen begann. Heute will keiner allein sein. Ihrer Verbundenheit mit den Opfern und untereinander verleihen die Schüler durch ein schwarzes T-Shirt Ausdruck, auf dem in grüner Farbe das Logo ihrer Schule zu sehen ist. Am Eingang der Kirche bieten die Schüler allen Trauergästen einen gleichfarbigen Anstecker an.
Gesonderte Eingänge verhindern, dass Trauernde und Journalisten zusammentreffen. Nur wer eine Einlass-Karte hat, darf in das Gotteshaus. Für die anderen sind in der Stadt verteilt in Kirchen, Hallen und einem Stadion acht Videoleinwände aufgebaut. Tausende sind gekommen, um ihr Mitgefühl und ihre Trauer zu zeigen. Zeitgleich überträgt die ARD die Gedenkfeier.
In ihren Ansprachen versuchen der württembergische evangelische Landesbischof Frank Otfried July und der katholische Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst, Worte für das Unfassbare zu finden. Beide Bischöfe fragen nach dem Warum und warnen zugleich vor schnellen Antworten. Heute, so die Bischöfe, kann es nur darum gehen, die Trauer vor Gott zu tragen und mit den anderen zu teilen. Der Text aus dem Neuen Testament bringt die christliche Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde zum Ausdruck. Zu Beginn der Andacht entzünden Mitschüler für jedes der 15 Opfer eine Kerze vom Licht der Osterkerze und tragen sie mit einer Rose zum Altar. Am Ende wird die Osterkerze in die Altarmitte zwischen die 15 anderen Lichter gestellt.
Unmittelbar anschließend beginnt in der Kirche der Staatsakt, in dem der sichtlich bewegte Bundespräsident Horst Köhler den Angehörigen und Freunden der Toten sein Mitgefühl und seine Anteilnahme ausspricht. Auch Köhler stellt mehr Fragen, als dass er Antworten geben will: "Tun wir genug, um uns und unsere Kinder zu schützen? Tun wir genug, um gefährdete Menschen vor sich selbst zu schützen? Tun wir genug für den inneren Frieden, den Zusammenhalt?"
Für ein Staatsoberhaupt überraschend deutlich nimmt Köhler zum Thema Gewaltspiele Stellung. Schon der gesunde Menschenverstand sage, dass der Dauerkonsum von Computerspielen mit extremer Gewalt oder mit zur Schau gestellten zerstörten Körpern nicht gut sein könne. Zwar fordert Köhler nicht ausdrücklich ein Verbot, aber seine Haltung ist eindeutig: "Dieser Art von 'Marktentwicklung' sollte Einhalt geboten werden."
Die durch das Massaker und seine Folgen schwer gezeichnete Schulleiterin der Albertville-Realschule, Astrid Hahn, setzt am Ende des Staatsaktes mit ihren Schülern noch "Zeichen der Hoffnung und Zukunft". Sie zitiert Martin Luther King mit dessen berühmtestem Satz: "Wir haben einen Traum". Vor den Altar stellen Schüler auf acht Klötze Symbole dieses Traums: ein Herz für Liebe, Hände für Hilfsbereitschaft, eine Brücke für die Zukunft, ein Zeugnisheft für die Prüfungen des Lebens, Ringe für Freundschaft, ein Tanzkleid für Lebensfreude, einen Scherenschnitt für die Familie und Sonnenblumen für den Wunsch nach Sonne und Licht. Jedes Symbol stehe für die Hoffnung auf ein Gelingen. "Gemeinsam", sagt Hahn, "können wir es schaffen." Alle in der Kirche folgen ihrer Bitte, sich während des letzten Musikstücks der Feier gegenseitig an die Hand zu nehmen.
Winnenden sucht seinen Weg, das Drama zu verarbeiten.
Staatsakt für die Amokopfer in Winnenden
"Ihr seid nicht allein"
Mit einem bewegenden Trauergottesdienst und anschließendem Staatsakt haben die Bürger in Baden-Württemberg der Opfer des Amoklaufs von Winnenden und Wendlingen gedacht. Bundespräsident Horst Köhler verlas die Namen der 15 Opfer und sprach den Freunden und Familien der Toten sichtlich bewegt sein Mitgefühl und seine Anteilnahme aus.
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