Ansprachen der Bischöfe Fürst und July bei Amoklauf-Trauerfeier

"Jetzt ist die Zeit zum Weinen, Klagen und Trauern"

Für Angehörige und Freunde der Opfer des Amoklaufs von Winnenden und Wendlingen hat am Samstag der zentrale ökumenische Trauergottesdienst stattgefunden. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert die Predigten des katholischen Bischofs von Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst, und des evangelischen württembergischen Landesbischofs, Frank Otfried July, in gekürzter Fassung.

 (DR)

Bischof Fürst:

Liebe Angehörige! Liebe Trauergemeinde!

'Mein Herz grübelt bei Nacht, ich sinne nach, es forscht mein Geist'
(Ps 77,7) Wer von uns, die wir in immer noch fassungsloser Trauer hier versammelt sind, könnte diese Worte aus dem eben gebeteten Klagepsalm nicht mitsprechen? Es sind Worte, die auch unseren, vom vielfachen Tod verstörten Herzen entstammen. Wie dem verzweifelten Beter geht es heute besonders Ihnen, den Angehörigen, die Sie so schwer getroffen sind. Ihnen gilt mein, unser aller tief empfundenes Mitgefühl. Ihnen, die unermessliches Leid tragen müssen, Ihnen, denen die liebsten Menschen genommen wurden, Ihnen wollen wir zur Seite stehen, sie stützen, Ihre Trauer und Ihren Schmerz teilen.

(...)

Heute ist noch nicht die Zeit, daran zu denken, was zu tun sein wird und wo wir uns ändern müssen. Nein: Jetzt ist Zeit zum Weinen, zum Klagen und zum Trauern. Deshalb war es in diesen Tagen und ist es in dieser Stunde gut, Ihnen, den Angehörigen, mitmenschliche Verbundenheit zu zeigen und Sie Nähe spüren zu lassen. Wir sind verbunden mit Ihnen, die Sie Ihr Kind, den Verwandten, die Kollegin, Freund oder Freundin verloren haben; Verbundenheit und Nähe für Sie, die ob des Verlustes klagen, die an den Ereignissen und auch an Gott zu verzweifeln drohen.

Ich weiß, viele konnten tröstende Nähe spüren in diesen Tagen durch Menschen an ihrer Seite, durch Notfallseelsorger, Sanitäter, Psychologen und viele andere Menschen, die einfach da sind. Sie sind nicht verlassen! Wir alle danken den Helfern!

Doch unser von Schmerz erfülltes, noch lange nicht verklingendes:
Warum?, können wir auch zu Gott selbst tragen. Ein Mensch, der selbst Leid und Tod erlebte, schrieb einmal in sein Tagebuch: "Wenn ich selbst drüben bin, bei Gott, werde ich ihn selbst auch fragen über all das, was ich in diesem Leben nicht begreifen konnte und wo ich nirgends eine Antwort gefunden habe." Wir ungetrösteten Menschen können an Gott selbst die Fragen richten, die uns zutiefst erschüttern.

In der Lesung aus der Offenbarung des Johannes antwortet Gott auf unser Klagen. 'Die alte Erde wird vergehen, ein neuer Himmel wird über euch aufgehen, unter dem kein Tod mehr sein wird'. Gottes Versprechen gilt einer neuen Zeit für uns, für Sie, die Leidtragenden. Gottes Versprechen gilt einer neuen Welt zum Leben.
Im Glauben begreifen wir: Die Zukunft von Gott her ist nicht die endlose Verlängerung der heutigen Not und Bedrängnis. - Sie, die so leiden unter dem Schmerz des Verlustes, können hoffen: Ihre Kinder, Ihre Kolleginnen, Ihre Angehörigen liegen in den offenen Armen Gottes. Sie sind gehalten von seiner Liebe. Gott selbst ist nahe und schenkt neues Leben.

Liebe zum Gedenken Versammelte! Manche werden sich schwer damit tun, diesen Trost für sich heute anzunehmen. Da sind noch lange und mühsame Wege zu gehen, und manche Wunde wird kaum heilen können.
Aber dieser Trost ist keine billige Vertröstung, die schrecklichen Ereignisse werden nicht verdrängt. Gott weiß um unsere Tränen, um unsere Mühsal, unsere Fragen und Anklagen (vgl. Apk 21,4): Gott selbst weiß um den Tod - in seinem Sohn hat er ihn selbst erlitten - so trägt er ihn mit uns.

Im Glauben sind wir uns gewiss: Gott schaut auf die Mächte des Todes, die uns bedrücken, bedrohen, ja, die hier das Leben von Menschen vernichtet haben. Gott kommt uns entgegen auf den schweren Wegen dieser Tage. Er sieht den Schmerz, das Leid und die Not. Er hat es überwunden, weil er in Jesus Christus den Tod selbst getragen und in neues Leben verwandelt hat. Wir dürfen glauben und hoffen, dass Ihre lieben Angehörigen bei ihm sind.

(...)

Gott kommt uns entgegen mit seiner Liebe. Das ist die Kraft unseres christlichen Glaubens, der uns trägt - gerade heute. Halten wir die Hoffnung fest, dass Gott uns in seinen Armen hält.

Amen.

***

Landesbischof July:

Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde in nah und fern,

wie viele Tränen sind geflossen seit jenem Mittwoch, dem 11. März, jenem Tag des Todes in Winnenden und Wendlingen. Wie viele Tränen sind geflossen und WARUM? In den Himmel geschrien worden. Bei Tag und bei Nacht. Wie viele Tränen bei Angehörigen und Freunden, bei Helferinnen und Helfern, Schülern und Lehrerinnen. Wie oft die
Bitte: Lass es nicht wahr sein!

Manche hat die Trauer stumm gemacht; die Zeit ist für sie stehen geblieben, hat sie herausfallen lassen aus all dem, was bisher wichtig und bedeutend erschien. Und dann waren plötzlich auch keine Tränen mehr da - die Augen leer geweint. Andere haben in ihrer Trauer und in ihrer Suche nach Antworten, in ihrem Fassen-Wollen des Unfassbaren, schon früh nach Gründen gesucht, Ursachen erforscht, Erklärungen ausgesprochen. Aber auch in dieser Suche tritt uns viel Ratlosigkeit entgegen.

Und unser heutiges öffentliches Trauern in Verbindung mit dem schweren persönlichen Leid der Angehörigen soll ja auch deutlich
machen: Es ist eine Schockwelle durch unser Land gegangen. Wir zeigen gemeinsam unsere Trauer. Wir sehen uns an. Wir sagen den Angehörigen, den Menschen in Winnenden, Wendlingen und in den benachbarten Orten: Ihr seid nicht allein. In dieser Tragödie sehen wir aber auch: Wir brauchen Räume des Gemeinsam-Trauerns und -Tragens, des Austausches, des Sehens und des Mutes, über die Gebote Gottes zum Leben zu sprechen.

Es waren und sind Tage, in denen wir nur Bruchstücke einsammeln und vor Gott hinhalten können. Da stehen die flackernden Kerzen; da stehen die Namen und Bilder derer, deren Lebenslauf jäh zu Ende ging
- abgebrochen wurde. All die geliebten Menschen, die aus unserer Sicht noch so viele Möglichkeiten gehabt hätten: Wir bringen diese Leben vor Gott.

Aber wir schweigen auch den Täter, Tim K., und sein furchtbares Tun nicht tot. In Wendlingen haben Menschen an der Stelle, wo er sich selbst tötete, einige, wenige Kerzen aufgestellt. Abgeschieden von den Opfern, wird auch dieses Bruchstück eines Lebens vor Gott gestellt. All das bringen wir in dieser Stunde vor Gott. Die Bruchstücke, alles ausgesprochene und unausgesprochene, all unsere Trauer, unsere Rachegedanken, all unser Tun und Lassen, all unser Misslungenes und Verfehltes, unsere Voreiligkeiten und Trägheiten.

Der Riss der vergangenen Tage bleibt; die Trauer, der Schmerz. Viele werden lange, lange, sogar lebenslang daran tragen. Viele schlimme Bilder stehen vor dem inneren Auge.

Unsere Hoffnung, unser Glaube, unsere Bitte ist, dass diese schrecklichen Bilder nicht das letzte Wort haben. Die Todesbilder dieser Welt, die wir so oft sehen müssen und die sich jetzt unter uns ereignet haben, haben nicht die letzte Macht.

(...)

Wir haben in dieser Gesellschaft miteinander Verantwortung, welche Bilder öffentlich werden und prägen, welchen Bildern unsere Kinder und Jugendlichen begegnen und welchen Erfahrungen. Wir haben miteinander die Verantwortung, welche Verhaltensweisen unter uns Platz ergreifen. Kehrt um, wo falsche Bilder und falsche Verhaltensweisen unter uns sind! Gott schenke uns Bilder des Friedens und neuen Lebens. "Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen..."

Amen.