Rücktrittsgesuch von Kardinal Marx wirft Fragen auf

Spekulationen über Hintergründe

Die kirchenpolitische Lage in Deutschland gleicht nach der Rücktrittsankündigung von Kardinal Reinhard Marx einer Schachpartie, in der ein Spieler unerwartet seine Dame geopfert hat. Gegner und Zuschauer rätseln, was ihn dazu bewegt hat.

Autor/in:
Ludwig Ring-Eifel
Kardinal Marx blickt auf die Uhr / © Markus Nowak (KNA)
Kardinal Marx blickt auf die Uhr / © Markus Nowak ( KNA )

Könnte es sein, dass Marx mit seinem "Demutsmanöver" (Lucas Wiegelmann in der "Welt") letztlich doch nicht den Abgang in die Bedeutungslosigkeit suchte, sondern Höheres im Sinn hatte?

Der in Rom gut vernetzte amerikanische Journalist John Allen Jr. vom Online-Portal "Crux" ging als einer der ersten auf die Suche nach einem möglichen vatikanischen Posten für den Münchner Kardinal und stieß dabei auf eine Stelle, die dem Strategen Marx attraktiv erscheinen könnte, um, wie er selbst sagt, weiter der Kirche zu dienen.

Der Präfekt der Bischofskongregation, der kanadische Kardinal Marc Ouellet, hat in dieser Woche sein 77. Lebensjahr vollendet, die "Personalabteilung der katholischen Weltkirche" leitet er bereits seit gut zehn Jahren. Ein Wechsel an der Spitze dieser Behörde in nächster Zeit wäre alles andere als ungewöhnlich.

Außer für Nachbesetzungen an der Spitze von mehr als 3.000 Bistümern weltweit ist sie auch für die Durchsetzung von Disziplinarmaßnahmen gegen all jene Oberhirten zuständig, die ihre Pflichten nachweislich verletzt haben. Ein einst mächtiger Erzbischof, der mit gutem Beispiel vorangegangen ist und sich, theologisch gesprochen, "selbst erniedrigt hat", wäre nicht die schlechteste Besetzung für diesen Posten.

Personeller Brückenkopf in Rom

In der Person seines einstigen Generalvikars Peter Beer, derzeit Dozent an der Päpstlichen Universität Gregoriana in dem international immer wichtiger werdenden Päpstlichen Kinderschutzzentrum CCP, hat er schon heute einen personellen Brückenkopf in Rom. Ihm vertraute er auch den Beiratsvorsitz einer Stiftung zugunsten von Missbrauchsopfern an, die Marx kurz vor Jahreswechsel unter erheblichem Einsatz seines Privatvermögens errichtete.

Beer also könnte seinen einstigen Chef in Rom mit Rat und Tat unterstützen, falls dieser seine Mission für einen kompromisslosen Neuanfang der Kirche auf höherer Ebene fortsetzen wollte - und falls der Papst ihm diese Aufgabe anvertraut.

Papst nicht unter Zugzwang

Der Papst wiederum ist, zumindest was die Causa Marx angeht, derzeit nicht unter Zeitdruck. Der Kardinal ist an der Basis und weit über die Kirche hinaus seit seinem freiwilligen Machtverzicht beliebter denn je, Franziskus kann ihn noch etliche Monate "bis auf Weiteres" im Amt lassen.

Vor allem kann er in Ruhe das neue Münchner Missbrauchsgutachten abwarten, dessen Veröffentlichung in den nächsten Monaten erwartet wird. Sollte Marx darin ähnlich ungeschoren davonkommen wie unlängst Kardinal Woelki in seinem Kölner Gutachten, stünde einer Beförderung des Münchners nach Rom kaum noch etwas im Wege.

Sollte aber das Gutachten Marx belasten und ihm handfeste Pflichtverletzungen im Umgang mit Missbrauchsfällen nachweisen, wäre die Exit-Strategie als einfacher Seelsorger die näherliegende - so wie sie der französische Kardinal Philippe Barbarin wählte, der heute als einfacher Seelsorger in einem bretonischen Dorf seinen Dienst tut.

Frage nach den eigentlichen Auslösern

Wie auch immer das Drama ausgeht, die Frage nach den eigentlichen Auslösern bewegt derzeit die Gemüter ähnlich wie die nach möglichen Fernzielen. Marx selbst führt interessanterweise zwei Begegnungen mit Journalisten als ausschlaggebende Momente für seinen einsamen Entschluss an: Im Skandaljahr 2010 fragte ihn ein Reporter der "New York Times", ob die Erfahrungen mit dem priesterlichen Missbrauch seinen Glauben verändert habe. Marx antwortete damals mit einem einfachen "Yes!".

Am anderen Ende der Skala steht die unvergessen barsche Reaktion auf die Frage der DLF-Journalistin Christiane Florin, die ihn nach der Vorstellung der großen bundesweiten Missbrauchsstudie 2018 in Fulda fragte, ob angesichts der Vielzahl der nun erfassten Fälle kein einziger Bischof über einen Rücktritt nachgedacht habe. Damals antwortete Marx mit einem von vielen als anmaßend empfundenen apodiktischen "Nein!".

Beide Fragen und beide Antworten haben, wie Marx inzwischen selbst kundtat, lange in ihm nachgewirkt. Über das eigenartige Wechselspiel von Bischöfen und Journalisten, das derzeit auf ganz andere Weise auch in Köln zu beobachten ist, sagt diese Erzählung eine Menge.

Sie verdeutlicht, dass die Begegnung der Oberhirten mit den Medienschaffenden mehr sein kann als ein pflichtschuldiges Frage- und Antwortspiel: Es kann mitunter Gewissheiten erschüttern und Prozesse auslösen, die innerhalb der klerikalen "Blase" so vermutlich nicht in Gang gekommen wären.

Kritik an der Wortwahl "toter Punkt"

Effekte der Begegnungen von Journalisten und Bischöfen sind auch in eine andere Richtung zu beobachten. Die Aussagen, die Bischöfe im Medienkontext machen, führen immer wieder - auch dank Übersetzungsfehlern beim Übergang von der klerikalen in die journalistische Sprache - zu Rückwirkungen im klerikalen Milieu. So kritisieren derzeit hinter vorgehaltener Hand nicht wenige Kleriker das Wort vom "toten Punkt", an dem die Kirche laut dem Statement von Marx angekommen sei.

Das Ende derart herbeizureden, nütze niemandem, sagen diese Kritiker. Und auch der Bode'sche Satz "Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben!" klinge zu sehr nach Abgesang und zu wenig nach Neuanfang. Der Gedanke, dass beide damit keineswegs das Ende der Kirche heraufbeschwören, sondern eigentlich im Theologen-Jargon von Auferstehung und Neuaufbau sprechen wollten, sei dabei auf der Strecke geblieben.

Vielleicht erklären diese Unklarheiten die insgesamt eher verhaltenen Reaktionen auf Marx' Donnerschlag. Außer dem Bischofskonferenz-Vorsitzenden Georg Bätzing und seinem Vize Franz-Josef Bode machten sich nur ganz wenige die Sichtweise des Noch-Erzbischofs von München und Freising öffentlich zu eigen.

Das wirft die Frage auf, ob Marx mit seinem offensichtlichen Alleingang wirklich die geeignete Methode gewählt hat, um über das Anfangsstadium von Schockstarre und Respekt hinaus jenes Momentum in Gang zu bringen, das die katholische Kirche braucht, um wieder voranzukommen.


Quelle:
KNA