DOMRADIO.DE: In Dortmund waren über 70.000 Plätze zum Singen in unter einer Stunde ausverkauft. Religionssoziologe Detlef Pollack von der Uni Münster. Was steckt denn hinter diesem Trend?
Prof. Dr. Detlef Pollack (Seniorprofessor für Religionssoziologie an der Uni Münster): Das ist eigentlich ein neues Phänomen, das wir seit ein paar Jahren beobachten können. Mich hat das auch sehr interessiert, warum Tausende von Menschen in der Adventszeit ins Stadion gehen. Es ist, glaube ich, eine Mischung von verschiedenen Motiven. Sehr wichtig ist, dass es die dunkle Jahreszeit ist. Man kommt dort zusammen, es ist eigentlich kalt, und die Welt ist ein bisschen unwirtlich.
Es gibt viele Probleme in der Welt, Krisen und aggressive Regierungsrepräsentanten, und man kommt zusammen als Familie. Man geht normalerweise ins Stadion, um die eigene Mannschaft zu unterstützen, aber man versteht sich als Familie. Und man kommt mit der eigenen Familie und mit Freunden und ist über die Kameradschaft miteinander verbunden. Es ist ein Fest des Lichts in einer dunklen Zeit. Es ist aber auch ein Zeichen der Verbundenheit mit dem Club und mit der eigenen Stadt und mit der Herkunft.
DOMRADIO.DE: Es sind ja nicht nur Fußballfans, da kommen auch viele Leute, die sonst nicht ins Stadion gehen. Da wird die Weihnachtsgeschichte vorgelesen, da werden alte Kirchenlieder gesungen. Ist das nicht auch ein Zeichen dafür, dass die Menschen sich gerade in der Adventszeit nach Spiritualität und Besinnlichkeit sehen?
Pollack: Ganz unbedingt ja. Das Besondere an der Weihnachtszeit ist, dass man die Lieder kennt, die man zu Weihnachten singt. Man kann mitsingen, wenn "Kommet, ihr Hirten", "O Du Fröhliche" oder "Stille Nacht" gesungen wird, oder auch "Leise rieselt der Schnee", das ist ja eigentlich kein christliches Lied.
Diese Weihnachtslieder sind so bekannt, dass man sich im Stadion auch aktiviert fühlt und sich freut, dabei zu sein, auch wenn man gar nicht so viel mit dem eigenen Club zu tun hat. Auch diejenigen, die keine Fußballfans sind, haben dann die Mütze vom Verein auf. Das ist eine Mischung von verschiedenen Motiven: Der Verein ist wichtig, die Stadt ist wichtig, und auch die Heimat und das Christentum sind wichtig.
DOMRADIO.DE: Die Gemeinschaft ist wichtig, aber wir wissen ja heute, dass die Kirchen an Weihnachten nicht mehr ganz so voll sind. Wäre das nicht ein zukunftsfähiges und niederschwelliges Format, das die Kirche stärker für sich nutzen könnte, als eine Art Open-Air-Gottesdienst?
Pollack: Viele von denjenigen, die ins Stadion gehen, suchen im Stadion das, was man früher vielleicht beim Weihnachtsgottesdienst auch gesucht hat. Dort treten auch Pastorinnen und Pastoren auf und halten eine kurze Ansprache, meistens nicht länger als zwei Minuten. Sie wissen ganz genau, wo die Grenzen sind. Sie verbreiten einfache Botschaften: Gott ist Mensch geworden, werdet auch menschlich. Das ist die Botschaft, und man kann nicht darüber hinausgehen. Das wissen auch die Vertreter der Kirche ganz genau. Sie verzichten auf ein Gebet und auf den Segen, aber sie sind mit dabei.
Das ist jetzt nicht unbedingt ein Hinweis darauf, dass die Säkularisierung zu Ende ist und dass die Menschen im Stadion das suchen, was sie eigentlich in der Kirche auch finden könnten, sondern das ist eine verdünnte Form des Christentums. So ist das für die Menschen auch gut verträglich. Wenn man daraus mehr machen wollte und versucht, die Menschen zu evangelisieren, oder wenn man sie in ihrem Glauben anspricht, glaube ich, da würden sich die Menschen nicht abgeholt fühlen.
Das Interview führte Elena Hong.