"Die vorrangige Option für die Armen" (8), die daraus folgende Konsequenz der im Glauben begründeten Nächstenliebe wie der Kampf gegen Strukturen der Ungerechtigkeit sind die Botschaften des ersten großen Lehrschreibens von Papst Leo XIV. Die heute veröffentlichte Exhortation trägt die dazu passende Überschrift "Dilexi te. Über die Liebe zu den Armen".
Nicht viel Neues, mag man auf den ersten Blick meinen. Die Lektüre der 53 Seiten verspricht aber nicht weniger als den ersten tieferen Einblick in das moralische und gesellschaftliche Denken des neuen Papstes. Eine sozialethische Programmatik dieses Pontifikats ist damit vorgezeichnet. Allein dafür lohnt sich ein Blick in und zwischen die Zeilen des Schreibens. Schauen wir hierfür zunächst auf Kernaussagen: die verwendete theologische Systematik, die Problemanalyse und die vorgeschlagenen Lösungen. Anschließend sollen einige sozialethische Desiderate herausgestellt werden, ehe eine Gesamtbewertung gewagt sei, sofern das nach der ersten kurzen Lektüre heute schon möglich ist.
Kernaussagen
Die Exhortation knüpft ausdrücklich an das Vermächtnis von Papst Franziskus an, der ein geplantes Schreiben mit selbem Titel als Fortsetzung der Enzyklika "Dilexit nos" vom 24.10.2024 nicht mehr erstellen konnte. Die Option und die Liebe zu den Armen ist seit langem ein Kernanliegen der kirchlichen Sozialverkündigung, das Papst Franziskus mit vielen Texten und Gesten in den Mittelpunkt seines Pontifikats gestellt hatte. Leo führt diese Programmatik mit eigenen Akzentsetzungen fort.
Ausgangspunkt seiner Sozialethik ist das Gottesbild: "Gott ist barmherzige Liebe" (16). Mit diesem Vorrang Gottes wird das dreifache Liebesgebot Jesu interpretiert (24). Glaubwürdige Nachfolge bedeutet zuerst Gott die Ehre zu erweisen. Das wird programmatisch vorangestellt durch die Deutung zu Jesu Lob derjenigen Frau, die ihm kostbares Öl über sein Haupt gießt (Mt. 26). Nicht also soll das alles einfach verkauft und das Geld dann den Armen gegeben werden (5). Zuerst verdient also Gott in Person von Jesus unsere Liebe. Seine Gegenwart setzt sich nach Tod und Auferstehung in den Armen fort. Dies ist die Begründung zum zentralen christlichen Gebot der Nächstenliebe, das in seiner Wurzel im Evangelium (15) ausdrücklich anders begründet ist als andere Formen sozialer Hilfe. Solche Liebe soll "Gefangene des Bösen" (21) mit dem Ziel der "ganzheitlichen Entwicklung des Menschen" (13) befreien. Da dies eine "Familienangelegenheit" der Kirche sei, ist demnach ein Christ- und Kirche-Sein ohne solche Befreiung durch Liebe unmöglich (28f., 104). Das Geben von Almosen zähle ausdrücklich dazu. Es helfe nicht nur den Armen, sondern läutere auch die Seele des Spenders (43, 46). Im Sinne von Benedikt XVI. ist neben dem wichtigen Heilsaspekt bestätigt, dass diese Liebe Hauptweg der Soziallehre der Kirche ist, gleichermaßen auch der Sozialpraxis.
Tugendethisch bedeutet dies – anders als ein bloß mitleidiges Gegenüber – die Aufforderung zu einem empathischen Mit-Sein mit den Armen (56), wie es etwa monastische Gemeinschaften über Jahrhunderte und in jüngerer Vergangenheit Mutter Teresa vorlebten (77). Solches Leben "unter den Armen" hebt Papst Leo als besonders glaubwürdige Berufung hervor (101). Auch andere Gemeinschaften wie Hospiz- und Bettelorden, Volksbewegungen u.a. (51, 67, 80f.) sowie die Kirchenväter (vor allem Augustinus und Johannes Chrysostomos) werden genannt. Diese und die ersten kirchlichen Gemeinschaften mit Formen der Gütergemeinschaft seien uns in ihrem Geist Vorbild (34, 44). Die gerade in der Enzyklika "Laudato Si" von Papst Franziskus zu findende Betonung der Tugend wird nun von Leo in einer verschärften Tradition zu Paul VI. und Johannes Paul II. institutionenethisch flankiert: "Die Strukturen der Ungerechtigkeit müssen mit der Kraft des Guten erkannt und zerstört werden" (96). So hinterfrage die Option für die Armen das gesellschaftliche und das wirtschaftliche System (8f., 121): Strukturen, die Ungleichheit fördern (10), in Anlehnung an Papst Franziskus die "Diktatur einer Wirtschaft, die tötet" (92) sowie systemisch betrachtet eine sich selbst genügende Blase einer materiell reichen Avantgarde (95). Die Hoffnung auf unsichtbare Kräfte und Selbstheilungsmechanismen des freien Marktes (92,114) werden wie schon bei Franziskus verworfen.
Sozialethische Desiderate
Einige kritische sozialethische Bemerkungen seien hier erlaubt, die aber die Exhortation an einer Sozialenzyklika messen und mit dieser hohen Messlatte sicher einer relativierten Einordnung bedürfen.
Erfreulich ist, dass Armut nicht nur materiell, sondern auch moralisch und geistlich verstanden wird (9), wobei die geistliche Seite besonders herausgehoben wird (114). Die seelische Armut sollte noch ergänzt werden. Leider findet diese wichtige Ausdifferenzierung im weiteren Verlauf der Exhortation zu wenig Beachtung, wird doch meist die materielle Ungleichheit betont, vor allem in der institutionenethischen Analyse. So steht der Reiche grundsätzlich als ein Feindbild da, welches Leo aber ausdrücklich vermeiden will (16). Man wünschte sich für eine begriffliche Klarstellung eine systematische Differenzierung zwischen schlechtem (materiell egoistischem) und gutem (geistlich-seelischem) Reichtum, der sich ja gerade auch auf der Seite der materiell Armen findet (37ff.). Die materiell Armen können im wahrsten Sinne die materiell Reichen bereichern (109). Der materielle Armutsbegriff müsste auch noch sozialwissenschaftlich sauber geklärt werden: Man kann vermuten, dass Leo ihn nicht relativ (wie die meisten Armutsberichte), sondern absolut bemisst (13), was sachgerecht ist, aber explizit gemacht werden müsste.
Die im Mittelpunkt stehende Liebe wird überzeugend aus dem Evangelium begründet. Leider wird die dort auch erwähnte Eigenliebe aber nicht aufgegriffen.
Wie in vielen kirchlichen und politischen Dokumenten findet sich auch in dieser Exhortation (16, 53, 56, 64, 90, 111) eine mangelnde begriffliche Unterscheidung von Barmherzigkeit (als freiwilliger Nächstenliebe) und Solidarität (als soziales Rechtsprinzip auf Hilfe), wie sie Oswald von Nell-Breuning klar herausgearbeitet hatte. Das führt leider zu einigen irreführenden Zuordnungen ebenso wie die Unklarheit über den Inhalt von (sozialer) Gerechtigkeit, die sozialethisch sauber als das der Menschenwürde entsprechende Recht verstanden werden muss. Die Enzyklika "Quadragesimo Anno" mit dem darin begründeten Subsidiaritätsprinzip findet keine Erwähnung, obgleich dieses Sozialprinzip für die gerechte Wirtschaftsordnung von zentraler Bedeutung ist.
Die Kritik am Markt fällt bei Papst Leo weniger scharf aus als bei Papst Franziskus, der mit dialektischen Bezügen zur Theologie der Befreiung in der Enzyklika "Laudato Si" noch einen quasi etatistischen Primat der Politik vor der Wirtschaft eingefordert und damit Türen zum Sozialismus geöffnet hatte. Diesen Weg geht Leo trotz seines scharfen Aufrufs zur Zerstörung von Strukturen nicht so radikal mit. Dennoch hätte man sich statt der pauschalen Markt-Schelte eine differenziertere Wahrnehmung der positiven Gerechtigkeitseffekte eines ethisch gerahmten Marktes sowie der Symbiosen aus Markt und Humanität etwa in Ordnungen wie der Sozialen Marktwirtschaft oder einer Marktidee der Befähigungsfreiheit (Amartya Sen) gewünscht. Der Markt steht nämlich nicht – wie suggeriert – grundsätzlich im Gegensatz zur Wahrung der Menschenwürde und Menschenrechte (92, 94). Das hatte schon Johannes Paul II in seiner Enzyklika "Centesimus Annus" systematisch herausgearbeitet, dessen Erbe in der Exhortation aus meiner Sicht mehr Würdigung verdient hätte. So teile ich nicht die durchschimmernde Auffassung, dass er weniger politisch war als Benedikt XVI. (88) und dass er die Beziehung der Kirche zu den Armen lediglich "zumindest im Bereich der Lehre" verstetigt habe (87).
Welche Strukturen sollen eigentlich zerstört werden? Und was genau soll an deren Stelle treten? Hier wären eine saubere Identifizierung und Differenzierung von solchen "Strukturen der Sünde" notwendig, ehe konkrete Lösungen vorgeschlagen werden könnten. Auch müssen die Begriffe von Menschenrecht und Menschenwürde inhaltlich definiert werden, da sie in globalen Kontexten (etwa in China) grundsätzlich anders als im Westen verstanden werden. Ein Rückgriff auf die Instruktion "Dignitas infinita" aus diesem Jahr ist dazu sicher lohnend.
Das Naturrecht als Begründungsquelle und Thomas von Aquin, der doch maßgeblich die Grenzen einer Orientierung an einer kollektiven Urgemeinde aufgezeigt hat, sollten – anders als hier – mit berücksichtigt werden. Auch ist es bedauerlich, dass bei der lobenden Erwähnung so vieler großartiger Ordensgemeinschaften gerade die Steyler Missionare unerwähnt bleiben, die wie kaum ein anderer Orden das Mit-Sein mit den Armen weltweit überzeugend leben und so für das Anliegen dieser Exhortation glaubwürdig hätten Pate stehen können.
Einige Fußnoten seien noch ergänzt:
- Selbstverständlich wird die grundsätzliche Zweigeschlechtlichkeit des Menschen unterstellt (12).
- Es darf keine ideologische Ausgrenzung der Reichen geben (16), so dass etwa die abwertende Rede von "alten, weißen Männern" als unchristlich erwiesen ist.
- Migration bleibt ein zentrales Thema, ohne dass die Komplexität des Themas entfaltet wird (75). Dem Thema könnte sich eine folgende Sozialenzyklika widmen.
- Im Gegensatz zu anderen Regionen der Weltkirche (v.a. Südamerika) gibt es keine Verweise auf deutsche Kirche und Theologie.
- Die unter Kardinal Ratzinger verfasste und aus linken Kreisen viel kritisierte "Instruktion über einige Aspekte der ‚Theologie der Befreiung‘" findet eine positive Erwähnung. Das ist gegenüber Franziskus ein neuer Akzent.
Eine erste Gesamtbewertung
Insgesamt setzt die Exhortation ein Herzensthema von Papst Franziskus konsequent fort. Papst Leo macht hierzu die monastischen Traditionen stark, verbindet tugend- und institutionenethische Perspektive und ist gegenüber dem Markt weiter kritisch, aber milder als sein Vorgänger. Damit zeigt er sich gegenüber einer humanistisch gerahmten Marktwirtschaft anschlussfähig. Die Tugendperspektive ist weniger schwärmerisch als bei Franziskus entfaltet und wird so der Wirklichkeit mehr gerecht. Bemerkenswert ist die Priorität der Gottesliebe, aus der die Nächstenliebe abgeleitet wird.
Dieses klare Bekenntnis ist wegweisend auch für die Praxis von Diakonie, Seelsorge und Theologie, wollen sie nicht zum unglaubwürdigen Nominalismus verkommen (81). Kirche, christliche Sozialethik und soziale Praxis müssen wieder stärker im Blick auf den Herrn und das Evangelium gründen. Erfrischend ist zudem, dass der moralische Anspruch der Exhortation stets die Kirche und deren Institutionen, Strukturen und Verhaltensweisen mitdenkt. Zweifellos gibt es hier eine Menge zu tun, damit in der Stimme der Kirche nicht eine abgehobene privilegierte Avantgarde spricht, die unmoralisch agierend Moral einfordert (95). Nur ein kurzer Blick etwa in unsere Pfarreistrukturen beweist uns schmerzlich, wie sehr wir hier die Armen verloren haben. Die deutsche Kirche etwa ist in weiten Teilen ihrer Fläche eine Kirche jenseits der Armen.
Doch glücklicherweise finden sich viele sehr tiefe, weil glaubend gepflegte "Oasen der Würde". Deren Geist, deren Charisma jetzt endlich zu entdecken und missionarisch zu stärken statt selbstbezogen um sich selbst zu kreisen (7), ist der programmatische Wegweiser dieser Exhortation für unsere Kirche. So wird sich auch die Kirche von innen erneuern (7) können: in ihren Strukturen und im Geist einer geistlich reichen Armut.
Information der Redaktion: Der Autor Prof. Dr. Dr. Elmar Nass hat den Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT) inne. Seine Angaben in den Klammern des Textes beziehen sich auf die nummerischen Punkte des Lehrschreibens "Dilexi te" von Papst Leo XIV.