Ethik-Experte sieht Widerspruchslösung zur Organspende kritisch

Sollte jeder Organspender sein?

Lässt sich die Zahl der Organspenden in Deutschland erhöhen, indem jeder bis zum Widerspruch automatisch Spender ist? Gesundheitsminister Spahn denkt darüber nach. Der Theologe und Ethikratsmitglied Andreas Lob-Hüdepohl sieht das kritisch.

Nach einer Operation  / © Felix Kästle (dpa)
Nach einer Operation / © Felix Kästle ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland fällt im Europa-Vergleich eher kläglich aus. Ist da der Vorstoß von Minister Spahn nicht ein richtiger Weg, um Schwerkranken zu helfen?

Andreas Lob-Hüdepohl (Mitglied im Deutschen Ethikrat, Theologe und Professor für Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin): Ja und Nein. Wir kennen zwei Vorstöße von Minister Spahn. Nämlich zum einen den Gesetzentwurf vom letzten Donnerstag, den er als zuständiger Minister den Fraktionen zugeleitet hat. Und da greift er tatsächlich das auf, woran es tatsächlich hapert. Nämlich an den strukturellen Rahmenbedingungen. Der zweite Vorstoß ist gestern überraschend über ein Interview gekommen, dass er sich für die Widerspruchslösung einsetzt, die nicht Bestandteil seiner Gesetzesvorlage ist.

DOMRADIO.DE: Bleiben wir bei dem Gesetz. Es soll Hindernisse in den Kliniken ausräumen, Transplantationsexperten in Krankenhäusern sollen demnach mehr Zeit bekommen und der Prozess der Organentnahme soll besser vergütet werden. Hilft das denn?

Lob-Hüdepohl: Die Gesetzesvorlage greift das Problem, wie ich meine, richtig an. Denn es handelt sich in Deutschland weniger um eine grundsätzlich mangelnde Spendenbereitschaft, als vielmehr um die mangelnden strukturellen Voraussetzungen - insbesondere in den Krankenhäusern. In denen sterben die potenziellen Spenderinnen und Spender. Dieser Aspekt ist auch in fachlichen Kreisen der entscheidende. Den greift der zuständige Bundesminister jetzt auf; zu Recht.

DOMRADIO.DE: Zudem denkt Spahn darüber nach, eine Widerspruchslösung einzuführen. Das bedeutet, jeder ist automatisch als Organspender - außer man selbst oder Angehörige widersprechen. Wie stehen Sie dazu?

Lob-Hüdepohl: Hier gestehe ich freimütig, habe ich grundsätzliche Vorbehalte. Diese haben auch viele Kolleginnen und Kollegen von mir. Denn jede Organspende ist ein bedeutsamer Eingriff in die Privatsphäre, in die Persönlichkeitsrechte eines Menschen. Da möchte ich als Mensch ausdrücklich nicht nur befragt werden, sondern auch meine Zustimmung erteilen. Selbst, wenn ich schon tot bin. Denn das ist das Signum eines Verstorbenen. Er ist Leichnam und nicht Kadaver. Die Menschenwürde überträgt sich auch auf den toten Menschen. Insofern muss vorher eine Zustimmung nach meinem Dafürhalten erfolgen.

DOMRADIO.DE: Bei der Widerspruchslösung müsste der Betreffende ja nur ein einziges Mal explizit sagen: "Nein ich möchte das nicht." Warum ist das zu viel verlangt, sich einmal mit diesem Thema zu beschäftigen und sich dann dafür oder dagegen zu erklären?

Lob-Hüdepohl: Das ist überhaupt nicht zu viel verlangt. Aber in der Zustimmungslösung muss ich auch nur einmal zustimmen, abwägen und mich beraten. Damit habe ich mich auch einmal grundsätzlich damit bereit erklärt.

DOMRADIO.DE: Also Sie meinen damit die aktuelle Situation in Deutschland - denn eine Organspende ist nur dann möglich, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten einer Organ- und Gewebespende zugestimmt hat - beispielsweise auf einem Organspendeausweis oder einer Patientenverfügung.

Lob-Hüdepohl: Und ein zweiter Punkt ist ebenfalls wichtig. In der Regel werden natürlich die Angehörigen befragt. Wenn keine explizite Spendenbereitschaft vorliegt, werden die Angehörigen befragt, ob es dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entsprechen würde, dass man Organe entnimmt und das sollte auch erfolgen. Also, die Widerspruchslösung bringt nach meinem Dafürhalten überhaupt keinen Vorteil - im Gegenteil. Sie nährt ein Misstrauen in ein System, was in den letzten Jahren tatsächlich durch viele Skandale gelitten hat.

DOMRADIO.DE: Vielleicht sollten wir da mal nach Spanien gucken. Da ist nämlich die Widerspruchslösung Praxis und Spanien verzeichnet tatsächlich die höchste Rate an Organspendern. Sollte da nicht das Wohl der Patienten im Vordergrund stehen - also sollte man nicht sagen: "Okay, dann nehmen wir vielleicht ethische Bedenken ein bisschen in Kauf und denken daran, dass dann aber tatsächlich mehr Organe zur Verfügung sind."

Lob-Hüdepohl: Man könnte so argumentieren, aber schon die Zahlen sind nicht ganz so eindeutig, wie das Beispiel Spanien vermuten lässt. Wir haben in Schweden - ähnlich wie in Spanien - eine Widerspruchslösung. Dort ist die Spendenbereitschaft noch niedriger als in Deutschland. Und wir haben in den Vereinigten Staaten seit vielen Jahren eine ähnlich gelagerte Zustimmungslösung wie in Deutschland. Dort ist die Spendenbereitschaft und sind die Spenden deutlich höher als in Deutschland. Es gibt keine eindeutige Korrelation zwischen den Lösungen und einer höheren Bereitschaft. Die entscheidenden Faktoren sind eben die strukturellen Rahmenbedingungen, und die werden ja zu Recht auch vom Minister in seinem Gesetzentwurf aufgegriffen.

DOMRADIO.DE: Vor einigen Jahren gab es Skandale um gefälschte Organspende-Listen. Gesundheitsminister Spahn sagt jetzt, alle Versuche der Politik, die stark zurückgehende Zahl der Organspenden wieder zu erhöhen, seien ohne Erfolg geblieben. Bleibt also nur die Widerspruchslösung?

Lob-Hüdepohl: Nein. Und der Minister selber gibt ja die Antwort darauf, indem er nämlich neue politische Maßnahmen im Gesetzentwurf vorlegt. Und die finden - von Kleinigkeiten und Detailregelungen abgesehen - Platz. Zum Beispiel: Eine deutlich bessere Finanzierung der Organentnahme. Die ist nämlich unterfinanziert. Das heißt, Kliniken, in denen ein Mensch verstirbt, haben überhaupt keinen Anreiz, dass sie tatsächlich ein Organ entnehmen. Es gibt kein Spendenregister und dergleichen. Und das sind Probleme, die der Minister in seinem Gesetzentwurf angehen will. Das sind zukunftsfähige Alternativen, um die Spendenbereitschaft und nicht nur die Spendenbereitschaft, sondern die tatsächlich erfolgten Spenden signifikant zu erhöhen. Dazu bedarf es keiner Widerspruchslösung. Im Gegenteil.

DOMRADIO.DE: Wie würden denn die Menschen Ihrer Meinung nach reagieren?

Lob-Hüdepohl: Ich befürchte, dass die Widerspruchslösung eher das Misstrauen in der Bevölkerung nährt. Das Vertrauen in das System hat gelitten. Das finde ich natürlich sehr bedauerlich. Grundsätzlich wollen wir eine höhere Spendenbereitschaft und deutlich mehr Spenden und Transplantationen. Auch aus christlicher Sicht. Das möchte ich nachhaltig unterstreichen.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Andreas Lob-Hüdepohl / © Harald Oppitz (KNA)
Andreas Lob-Hüdepohl / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR