Soll Edith Stein zur Kirchenlehrerin erhoben werden?

Spannende Diskussion mit Pro und Contra

Von einer jüdischen Philosophin und Frauenrechtlerin zur Karmelitin, Heiligen und "Patronin Europas": Edith Steins bewegtes Leben ist ermutigendes Glaubenszeugnis. Aber steht sie auch für eine "herausragende Lehre"?

Porträt von Edith Stein im Jahr 1936 in Breslau (KNA)
Porträt von Edith Stein im Jahr 1936 in Breslau / ( KNA )
Prälat Helmut Moll gehört zu den Befürwortern einer Kirchenlehrerin Edith Stein.
Prälat Helmut Moll gehört zu den Befürwortern einer Kirchenlehrerin Edith Stein.

DOMRADIO.DE: Herr Prälat Moll, Ihre Beschäftigung mit Edith Stein reicht weit in die 90er Jahre zurück. In Ihrem Martyrologium des 20. Jahrhunderts widmen Sie ihr ein umfangreiches Kapitel. Nun ist im Gespräch, die als Märtyrerin verehrte Heilige zur Kirchenlehrerin zu ernennen. Welche Kriterien werden einer solchen Ehre zugrunde gelegt? Oder anders gefragt: Was macht einen Kirchenlehrer aus?

Professor Dr. Helmut Moll (Herausgeber des Martyrologiums): Grundvoraussetzung ist zunächst, dass derjenige ein Heiliger und nicht nur ein Seliger oder Bekenner ist, damit er auf der ganzen Welt auch liturgisch verehrt werden kann. Im 18. Jahrhundert hat Papst Benedikt XIV. Kriterien zusammengestellt, die noch heute für die Kirche bindend sind. Dabei ist das alles Entscheidende die "herausragende Glaubenslehre". Hinzu kommen außerdem die hervorstechende Heiligkeit und die Erklärung durch den Papst oder ein Konzil. Ein Kirchenlehrer bzw. eine Kirchenlehrerin muss eine neue Dimension in die Theologie eingebracht haben, die für die Wissenschaft und auch die Frömmigkeit ertragreich ist. Er muss eine neue Perspektive eröffnen. Und das ist nicht in jedem Fall gegeben, wenn ich da zum Beispiel an Don Bosco denke, dessen Verfahren in der Zeit, als ich in der römischen Kongregation für die Glaubenslehre – 1984 bis 1995 – tätig war, abschlägig entschieden wurde. Solche Anträge kommen vom Heiligsprechungsdikasterium, doch wir waren damals mit unserem Votum gefragt, wie es bei solchen Vorgängen üblich ist.

Originale Handschriften der Wissenschaftlerin Edith Stein. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Originale Handschriften der Wissenschaftlerin Edith Stein. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Bei Edith Stein hingegen sehe ich gute Chancen. Bei ihr könnte die herausragende Lehre in der Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament bestehen mit den Themen Christus als Hoherpriester, Yom Kippur und Karfreitag, Esther und Maria, Israel und die Kirche. Außerdem in ihrer Suche nach der Wahrheit in der Phänomenologie und Wissenschaft vom Kreuz. Und drittens: Ihre konkrete Anthropologie ermöglicht es, sich der Besonderheit des menschlichen Wesens bewusst zu werden mit der spirituellen Dimension des menschlichen Leibes, dem menschlichen "Ich", der Freiheit, dem Unterschied zwischen Mann und Frau. Und schließlich lässt sich in Edith Steins Schriften auch noch die menschliche und spirituelle Erfahrung der Suche nach dem Sinn des persönlichen Lebens, aber auch der menschlichen Geschichte nachweisen.

DOMRADIO.DE: So argumentieren Sie. Aber bei der Causa Edith Stein werden am Ende noch eine Menge anderer Theologen Mitsprache haben. Wie lange dauert denn eigentlich so ein Prozess?

Moll: Wie gesagt, das römische Dikasterium für die Glaubenslehre muss sein Votum abgeben. Doch bis das abschließend geschieht, werden zuvor fünf Konsultoren bestellt – das sind in der Regel Hochschulprofessoren, die eigens vom Präfekten dazu ernannt werden. Da Schwester Teresia Benedicta a Cruce – so ihr Ordensname – ein umfangreiches Werk hinterlassen hat, kann es unter Umständen viele Jahre dauern, bis hier ein Ergebnis vorliegt. Schließlich müssen diese Konsultoren herausfinden, was das Neue an der Lehre Edith Steins ist.

Prälat Helmut Moll

"Im rein praktischen Leben mag Edith Stein (…) unbeholfen gewesen sein, aber sie hatte eine große Geistesgabe und eine gewinnbringende Sprachbegabung, mit der sie zum Beispiel eine Theologie des Lebens – Mann und Frau haben je eigene Aufgaben und sind nicht austauschbar – vertrat."

DOMRADIO.DE: Dem vorausgegangen ist, dass das Leitungsgremium des Karmeliterordens im März Edith Stein – 80 Jahre nach ihrem Tod in Auschwitz – als Kirchenlehrerin vorgeschlagen hat. Seitdem ist über das Für und Wider eine kontroverse Diskussion entbrannt. Eine der prominentesten Befürworterinnen ist die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Andere, darunter die ehemalige Leiterin des Kölner Edith-Stein-Archivs, monieren, dass Edith Steins Schriften keine wirklich bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse liefern. Auf welcher Seite stehen Sie?

Moll: In dieser in der Tat kontrovers geführten Diskussion gibt es die Meinung, dass die philosophischen und theologischen Schriften der Heiligen eher rezeptiver Natur seien. Sie habe nur zusammengetragen, was andere gedacht und zu Papier gebracht hätten. Es fehle die Dimension kreativer Einsichten. Ergänzt wird diese Argumentation durch die Behauptung, eine solche Würde käme viel zu früh. Die Kirche denke in Jahrhunderten und die bereits 37 existierenden Lehrer und Lehrerinnen – es gibt übrigens bislang nur vier Frauen – hätten zum Teil Jahrhunderte auf diese Ernennung warten müssen.

Ob Edith Stein Kirchenlehrerin werden soll, wird gerade kontrovers diskutiert. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Ob Edith Stein Kirchenlehrerin werden soll, wird gerade kontrovers diskutiert. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Als Vizepostulator im Heiligsprechungsprozess von Edith Stein, in dem ich damals die Aufgabe hatte, ihre Schriften in Deutschland bekannter zu machen, sehe ich das etwas anders. Immerhin hatten Pater Ulrich Dobhan, ehemals Provinzial des Teresianischen Karmels und Schriftleiter des Edith Stein-Jahrbuchs, sowie die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Nestorin der Internationalen Edith Stein-Forschung, die Schriften Steins in einer Gesamtausgabe von 28 Bänden herausgebracht. Es gab also eine Menge Material. Und mir fiel zu, deutlich zu machen, worin das Besondere ihrer Forschungen als Philosophin, Theologin und auch Frauenrechtlerin lag. Von daher bin ich überzeugt, dass ihr durchaus die Bedeutung einer Kirchenlehrerin zukommt, zumal sie in ihrer Philosophie und Theologie eine neue Dimension eingebracht hat – in den bereits von mir benannten Feldern.

Man findet bei ihr eine tiefe karmelitanische Spiritualität, weil im Karmel der Gedanke der Sühne so präsent ist: wieder gut machen, was andere falsch gemacht haben. Konkret: Sie als Jüdin wollte wieder gut machen, dass das jüdische Volk Christus als Gottessohn nicht anerkannt hatte. Im rein praktischen Leben mag Edith Stein – anders als ihre Schwester Rosa, mit der sie vor ihrer Deportation nach Auschwitz im Kloster Echt zusammengelebt hat – unbeholfen gewesen sein, aber sie hatte eine große Geistesgabe und eine gewinnbringende Sprachbegabung, mit der sie zum Beispiel eine Theologie des Lebens – Mann und Frau haben je eigene Aufgaben und sind nicht austauschbar – vertrat. 

DORADIO.DE: Wie stichhaltig ist das Argument, mit Edith Stein wären dann schon vier Vertreter des Karmeliterordens – bislang gehören Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila und die kleine Therese dazu – Kirchenlehrer, was den Neid anderer Kongregationen, zum Beispiel den der Jesuiten oder Dominikaner, die mit Robert Bellarmin und Petrus Canisius bzw. Albertus Magnus und Thomas von Aquin auf nur jeweils zwei kommen, heraufbeschwören könnte?

Moll: Neid ist kein theologisches Qualitätskriterium und auch sonst kein qualifiziertes Argument. Es geht doch um die Ehre Gottes, um seine Verherrlichung. Von daher halte ich die Frage, wie viele Kirchenlehrer ein Orden in der Geschichte der Kirche hervorgebracht hat oder zukünftig noch einbringt, für entbehrlich. Fest steht doch, Edith Stein war eine herausragende Philosophin auf theologischem Fundament. Und sie konnte neue Denkanstöße in die Wissenschaft hinein liefern. Darum allein geht es.

Prälat Helmut Moll

"Gegen das Frauenpriestertum führt sie an, dass es seit Urzeiten kein Frauenpriestertum gegeben und die katholische Kirche ein solches auch nie anerkannt habe. Richtig ist, dass Edith Stein als Frauenrechtlerin immer vertreten hat, dass Mann und Frau gleiche Chancen haben sollten, aber eben auch über unterschiedliche Begabungen verfügen."

DOMRADIO.DE: Und wie stehen Sie dazu, dass der jüdischen Konvertitin und Ordensfrau, die ab 1933 für fünf Jahre im Kölner Karmel gelebt hat und die heute Schutzpatronin Europas ist, nachgesagt wird, ein ambivalentes Verhältnis zum sakramentalen Priestertum der Frau zu haben? Konkret wirft man ihr vor, dieses in ihren Schriften vermittelt und damit gegen die Lehre der Kirche verstoßen zu haben.

Unter den Schwestern des Kölner Karmels hat Edith Stein ab 1933 fünf Jahre lang gelebt. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Unter den Schwestern des Kölner Karmels hat Edith Stein ab 1933 fünf Jahre lang gelebt. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Moll: Edith Stein konnte sehr spontan sein und hat im Verlauf weiterer Überlegungen eigene theologische Argumente relativiert und zurückgenommen. Man sagt ihr nach, zumindest ein ambivalentes Verhältnis zum Priestertum vermittelt zu haben, was dann in der Tat gegen die "Fides orthodoxa" verstoßen würde. Am Ende, das wird bei dieser Argumentation gerne übersehen, kommt sie jedoch zur Übereinstimmung mit dem Lehramt, wozu man ihre Aussagen unbedingt im Kontext lesen muss. Denn hier hat sie klar Position bezogen. Gegen das Frauenpriestertum führt sie an, dass es seit Urzeiten kein Frauenpriestertum gegeben und die katholische Kirche ein solches auch nie anerkannt habe. Richtig ist, dass Edith Stein als Frauenrechtlerin immer vertreten hat, dass Mann und Frau gleiche Chancen haben sollten, aber eben auch über unterschiedliche Begabungen verfügen.

DOMRADIO.DE: Sind Ihnen weitere Argumente bekannt, die gegen eine Kirchenlehrerin Edith Stein sprechen?

Moll: Mancherorts wird argwöhnt, dass sich die Erhebung zur Kirchenlehrerin für die wissenschaftliche Auseinandersetzung in den Profanwissenschaften eher hinderlich auswirken würde, zumal Edith Stein dann als von der Kirche vereinnahmt gelte und eine unvoreingenommene Lektüre ihrer Überlegungen nicht mehr möglich sei.

Stehen die Schriften der Heiligen Edith Stein für eine herausragende Lehre? / © Beatrice Tomasetti (DR)
Stehen die Schriften der Heiligen Edith Stein für eine herausragende Lehre? / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Anfang März hat zum Weltfrauentag im Vatikan ein Kongress stattgefunden, bei dem die Kirchenlehrerinnen und Patroninnen Europas – also Hildegard von Bingen, Teresa von Avila, Katharina von Siena und Therese von Lisieux – im Mittelpunkt standen. Ist eine solche Veranstaltung nicht Wasser auf Ihre Mühlen?

Moll: In einem Grußwort an die Konferenzteilnehmer hat Papst Franziskus betont, dass die "herausragende Lehre" dieser Heiligen in der heutigen Zeit aufgrund ihrer "Beständigkeit, Tiefe und Aktualität" eine neue Bedeutung gewinne. Diese Lehre biete unter den gegenwärtigen Umständen "Licht und Hoffnung für unsere zersplitterte und unharmonische Welt". Auch wenn die Kirchenlehrerinnen und Europa-Patroninnen in unterschiedlichen Kontexten gelebt und gewirkt hätten, sei doch allen das "Zeugnis eines heiligen Lebens" gemeinsam. "Dem Geist gefügig, sind sie durch die Gnade der Taufe ihrem Glaubensweg gefolgt, nicht bewegt durch wechselnde Ideologien, sondern durch ein unerschütterliches Festhalten an der ,Menschlichkeit Christi‘, die ihr Handeln durchzieht."

Das Lebensbeispiel dieser heiligen Frauen, so Franziskus, verweise auf "jene Weiblichkeit, die für die Kirche und die Welt so notwendig ist". Diese Weiblichkeit sei geprägt durch den Mut, Schwierigkeiten zu überwinden, die Fähigkeit zum praktischen Handeln, den Einsatz für "das Schönste und Menschlichste entsprechend dem Plan Gottes" sowie "eine weitsichtige Vision der Welt und der Geschichte, die sie zu Hoffnungsspendern und Erbauern der Zukunft machte". Weiter zeichneten sich diese Frauen durch eine "große Liebe zur Kirche" aus sowie Engagement bei der Evangelisierung und dem Versuch, "die Sünden und das Elend ihrer Zeit" zu beseitigen. Soweit der Papst.

Im Kölner Edith Stein-Archiv treffen sich Forscher aus aller Welt. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Im Kölner Edith Stein-Archiv treffen sich Forscher aus aller Welt. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Ihr Fazit?

Moll: Franziskus ermutigte dazu, "jene weibliche Heiligkeit zu fördern, die die Kirche und die Welt fruchtbar macht", und sich heute für die Würde und den Wert der Frauen einzusetzen. Vor diesem Hintergrund bleibt es erst recht spannend abzuwarten, wie sich die schon jetzt rege Diskussion um eine Kirchenlehrerin Edith Stein in spe weiterentwickelt. Doch am Ende hat – so oder so – der Papst das letzte Wort. Er ist in seiner endgültigen Entscheidung, die kein Ausdruck des unfehlbaren Lehramtes ist, unabhängig und frei.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Edith Stein (Teresia Benedicta a Cruce) - Lebenslauf

Karmelitin (OCD), Philosophin, Märtyrin, Heilige, Mitpatronin Europas

12. Okt. 1891: geboren in Breslau als Tochter einer jüdischen Familie

1911-1915: Studium der Psychologie, Germanistik, Geschichte und Philosophie in Breslau und Göttingen

1915: freiwilliger Dienst im Seuchenlazarett in Mährisch-Weißkirchen

1916: Promotion zum Dr. phil an der Universität Freiburg

1916-1918: Assistentin ihres Doktorvaters Edmund Husserl in Freiburg

Porträt von Edith Stein im Jahr 1936 in Breslau (KNA)
Porträt von Edith Stein im Jahr 1936 in Breslau / ( KNA )
Quelle:
DR
Mehr zum Thema