Ostergrüße gegen das Alleinsein

"So viel Einsamkeit kann man sich gar nicht vorstellen"

Alte Menschen, die ohnehin schon an Kontaktarmut leiden, trifft die Corona-Epidemie besonders hart. Auch den Kirchenbesuch vermissen sie – gerade zu Ostern. Damit die Verbindung zu ihnen nicht abreißt, gibt es derzeit viele Initiativen. Ein Beispiel.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Karten mit der Botschaft: Du bist nicht allein! / © Beatrice Tomasetti (DR)
Karten mit der Botschaft: Du bist nicht allein! / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Das Telefon steht nicht mehr still. Auf dem Schreibtisch liegen überall Memo-Zettel mit Adressen, Kontaktnummern und Einkaufswünschen herum. Pausenlos macht sich Roswith große Oevermann Notizen und versucht, angesichts der Vielzahl an Anrufen dennoch den Überblick zu behalten. Sie ist die Koordinationsstelle, bei der alles zusammenläuft. Trotzdem habe sie mit dieser Wucht an Reaktionen auf den Aufruf im Osterpfarrbrief, Bescheid zu geben, wenn alte Menschen Hilfe brauchten, nicht gerechnet, räumt sie ein. Denn jeder, der sich meldet, weiß nicht mehr weiter, benötigt unmittelbar Unterstützung bei der alltäglichen Versorgung.

"Und jeder erzählt seine Geschichte, die einem zu Herzen geht und die sofortiges Handeln dringend macht. Bei fast 90-Jährigen kann man das Gespräch nicht einfach abkürzen, sondern muss Zeit zum Zuhören mitbringen, vor allem aber Verständnis und Einfühlvermögen. Am besten auch die Fähigkeit, trotz der geballten Hilflosigkeit, die die Anrufer unverhohlen formulieren, Zuversicht zu verbreiten und Mut zu machen", erzählt die Ehrenamtskoordinatorin der Pfarreiengemeinschaft Bensberg/Moitzfeld. Damit wird aus einem Dienst, der eigentlich als praktische Alltagshilfe für alleinstehende alte Menschen gedacht ist, auch eine seelsorgliche Aufgabe.

Die Krise sorgt für eine Welle an Hilfsbereitschaft

Seitdem das Leben weitestgehend still steht und Senioren aus Schutz vor Ansteckung in ihren Wohnungen bleiben und keine Besuche empfangen sollen, gibt es vielerorts diese Einkauf-Initiativen, die oft bei den Kirchengemeinden verortet sind und hier von dem Engagement vor allem junger Menschen – Messdiener oder Pfadfinder – leben. Allein 80 Einkäufe für ältere Menschen, die zurzeit nicht mehr vor die Tür kommen, aber auf eine solche Betreuung angewiesen sind, hat große Oevermann in den letzten drei Wochen organisiert. Denn der Bedarf sei riesig, stellt sie fest. Dabei kann die studierte Sozialpädagogin mittlerweile auf ein eingespieltes Team von 60 Helfern bauen. Und schon lange sind es nicht mehr nur die Jugendgruppen aus den Pfarreien, die mit anpacken. Mittlerweile handele es sich um einen bunt gemischten Querschnitt aus der gesamten Stadt, der sich an dieser Aktion beteilige, erklärt sie. "Und nicht unbedingt alles Menschen, die hier am Sonntag in die Kirche gehen und ohnehin zum ‚inner circle’ gehören."

Vielmehr seien darunter auch viele, die mit Religion gar nichts zu tun hätten, aber sich von dieser caritativen Idee, alte Menschen mit Lebensmitteln für den alltäglichen Bedarf zu versorgen, angesprochen fühlten und ihren Beitrag leisten wollten. "Das ist gelebtes Christsein. Eine bessere Werbung für Kirche, die hier als Impulsgeber gelten kann, geht eigentlich nicht", findet große Oevermann. Die momentane Krise sorge geradezu für eine Welle an Hilfsbereitschaft und bringe einmal mehr das Gute einer Gemeinschaft, nämlich ihre Solidarität mit den Schwächsten, ans Licht.

Viele alte Menschen können Corona-Krise nicht einordnen

Und sie registriert immer eine große Dankbarkeit am anderen Ende der Leitung. "Ich wüsste nicht, wie es ohne Ihre Hilfe gehen sollte." Diesen Satz hört die 54-Jährige fast täglich. "Es gibt Menschen, die sind so tief berührt, dass sie vor Freude am Telefon weinen. Für sie ist das Signal, dass sie in dieser Krise nicht aus dem Blick geraten, fast überlebensnotwendig."

Wie für Theresa Stelters*. Die 81-Jährige hat erst vor kurzem die Diagnose Krebs erhalten. Sie ist alleinstehend, bettlägerig und hat ohne Pflegestufe nicht einmal jemanden, der regelmäßig nach ihr sieht. Die kleine Ein-Zimmer-Wohnung mit Kochnische ist seit drei Wochen der begrenzte Radius, in dem sie sich bewegt, wenn sie mal für kurze Zeit das Bett verlässt. Kraft, um die Laken zu wechseln, hat sie nicht. "Solche Menschen, die ohnehin kaum über ein soziales Umfeld verfügen und schon in normalen Zeiten nicht alleine zurecht kommen, trifft es nun doppelt hart. Hinzu kommt, dass die meisten von ihnen das Ausmaß der Corona-Krise nicht einordnen können und daher auch nicht verstehen, dass jeder Kontakt mit der Außenwelt eine Gefährdung für die eigene Gesundheit darstellt", erklärt große Oevermann. Stattdessen würde oft schon im zweiten Satz Einsamkeit zum Thema und alles, was zwangsläufig mit Verlassensängsten zusammenhänge. Altlasten aus Kriegserfahrungen gehören mit dazu.

Den ganzen Tag mit Warten verbringen

Allein schon um überhaupt die Stimme eines anderen zu hören, würden viele ihre Nummer anwählen, berichtet die hauptamtliche Mitarbeiterin der Kirchengemeinde, die ihre Sprechzeiten wegen der enormen Nachfrage ausgeweitet hat. Als hätten sie auf ein solches Angebot geradezu gewartet. In vielen dieser Gespräche wird große Oevermann regelrecht zum Kummerkasten. Und dabei geht es dann eher nicht um den Sack Kartoffeln, ein halbes Pfund Butter oder einen Liter Milch – was über die Seelenbeichte hinaus im Übrigen aber auch nötig gebraucht wird. "Es gibt so viele Menschen, die einfach niemanden haben und daher ein großes Bedürfnis zu reden." In diesem Zusammenhang sei fatal, dass ausgerechnet auch noch alle Angebote, die es sonst in der Gemeinde für Senioren gäbe und den Alltag einigermaßen strukturierten, wegbrechen würden. "Wie oft wird der Wunsch ausgesprochen, den Helfer, der da eine Tüte vor der Tür abstellt, persönlich kennenlernen zu wollen." Das könne einem richtig wehtun. Aber mehr als ein Winken vom Fenster aus sei nun mal aus lauter Vorsicht nicht drin. "So viel Einsamkeit, wie mir am Telefon entgegenschlägt, kann man sich gar nicht vorstellen."

Selbst für alte Menschen mit Kindern und Enkelkindern ist die momentane Isolation erdrückend. Schließlich kann der Kontakt zum Opa oder zur Oma aus Rücksichtnahme zurzeit nur am Telefon hergestellt werden. "Ich sehne mich so nach meiner Familie, nach jedem kleinen Zeichen Leben", gesteht Christa Meyer*. Den ganzen Tag über verbringe sie mit Warten. "Ich vermisse so sehr, Anteil nehmen zu können an dem, was meine Enkel erleben, und male mir aus, wie es wäre, wenn sie doch plötzlich vorbeikämen und ich sie in meine Arme schließen könnte ", sagt die 94-Jährige mit tränenerstickter Stimme. Wenn nicht das Fernsehen laufe, schaue sie aus dem Fenster und hoffe auf ein Wunder. Umso größer sei die Enttäuschung, wenn nicht einmal das Telefon gehe.

Aufruf zu Kartenaktion mit überwältigender Resonanz

Auch die sonntäglichen Kirchenbesuche fehlten ihr schmerzlich: die Gottesdienste und der Kontakt mit den Menschen, die sie dort jedes Mal treffe. Manchmal müssten diese Begegnungen für eine ganz Woche reichen. "Jetzt höre ich die Glocken nur noch aus der Ferne läuten. Und dann ist sie gleich wieder da – diese große Sehnsucht. Mein Leben ist so inhaltsleer geworden und besteht eigentlich nur noch aus Warten", erklärt die alte Frau deprimiert.

Eine solche Verzweiflung auffangen mit einem Zeichen der Verbundenheit – gerade zu Ostern – will Gemeindemitglied Evi Hahn. In den vergangenen Tagen hat sie über die Homepage der Pfarreiengemeinschaft und Aushänge in den beiden Kirchen St. Nikolaus und St. Joseph dazu ermuntert, alleinstehenden Menschen, die unter den Besuchsverboten und der Kontaktsperre besonders leiden, Karten zu schreiben. Mit der Signalwirkung: Du bist nicht allein. Ich denke an Dich! Nun freut sie sich über eine "überwältigende Resonanz" und viele unterschiedliche, auch selbst gebastelte Grußbotschaften, die sie in einer bunten Box gesammelt hat. Die Idee sei ihr gekommen, weil viele alte Menschen vor allem in den Altenheimen noch mehr als sonst an Feiertagen ihrer Einsamkeit ausgesetzt seien. "Dann sollen sie wenigstens Post bekommen, wenn sie schon auf körperliche Nähe verzichten müssen", erklärt Hahn. Und sie sollten erfahren, dass sie nicht vergessen sind.

Alten Menschen vermitteln, dass sie dazu gehören

"Bei dieser Aktion sind viele aufmunternde Zeilen und persönliche Grüße zusammengekommen, die ich nun an die Verantwortlichen in den Senioreneinrichtungen und unserem Hospiz verteile. Es ist einfach toll, dass so vielen nicht gleichgültig ist, wie es den alten Menschen in unserer Stadt geht. Trotz der momentanen Einschränkungen und strikten Sicherheitsmaßnahmen wollen wir ihnen vermitteln, dass sie dazu gehören." Es herrsche so viel Verunsicherung. "Deshalb will diese Aktion denen Mut zusprechen, die es gerade jetzt besonders schwer haben."

Auch Roswith große Oevermann hat sich einen besonderen Ostergruß einfallen lassen. Jeder, der in diesen Tagen wieder einen Einkauf vor der Tür erwartet, findet mehr als Brot, Obst und Gemüse vor. In einer liebevoll mit Herzchenaufklebern gepackten Tüte befinden sich eine Osterkerze, ein gesegneter Palmzweig und eine Karte mit Osterwünschen des gesamten Seelsorgeteams. "Wir sind mehr als eine Solidargemeinschaft, die in der Not für das leibliche Wohl des anderen sorgt", betont die Bensberg-Moitzfelder Ehrenamtskoordinatorin. "Wir wollen auch über das, was unser aller Leben trägt, miteinander in Verbindung sein. Und zu Ostern erst recht."

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.


Evi Hahn hatte die Idee, Menschen in Senioreneinrichtungen Ostergrüße zu schicken / © Beatrice Tomasetti (DR)
Evi Hahn hatte die Idee, Menschen in Senioreneinrichtungen Ostergrüße zu schicken / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Etwas für die Seele sollen die Tüten von Ehrenamtskoordinatorin Roswith große Oevermann sein / © Beatrice Tomasetti (DR)
Etwas für die Seele sollen die Tüten von Ehrenamtskoordinatorin Roswith große Oevermann sein / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR