DOMRADIO.DE: Sie haben bei Ihrer Konferenz auf die Entwicklung der Rüstungsexporte im Jahre 2024 geschaut und kritisieren die Neuausrichtung der Rüstungspolitik der neuen Bundesregierung, die sich von Grundsätzen der vorherigen Regierung verabschiede. Was macht die neue Regierung in Ihren Augen falsch?
Prälat Dr. Karl Jüsten (katholischer Vorsitzender der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE)): Sie ist natürlich an die von der Regierung selbst aufgestellten Richtlinien gebunden, bzw. die Richtlinien der Europäischen Union. Daran hält sie sich auch im Großen und Ganzen. Wir stellen nur fest, dass sich die Trends geändert haben. Meine evangelische Kollegin Anne Gidion hat heute in der Pressekonferenz darauf hingewiesen, dass Indien nun als ein Land angesehen wird, welches den NATO-Ländern oder den befreundeten Drittländern gleichgestellt werden soll. Das sehen wir sehr kritisch. Indien hat im Inneren große Probleme und in der Region Konflikte auszuhalten, bzw. trägt selbst zu Konflikten bei.
Die Exporte in die Ukraine sind in diesem Jahr zurückgegangen. Das liegt vor allen Dingen daran, dass die Ukraine ihre eigene Rüstung extrem ausgebaut hat und Dinge herstellt, die wir nicht liefern könnten, weil wir in unserer eigenen Rüstung noch nicht so weit sind. So ist der Rückgang an dieser Stelle zu erklären.
DOMRADIO.DE: Auch Israel steht stark im Fokus. Dort sind die Rüstungsexporte stark angestiegen. In Deutschland wird darüber heftig gestritten. Im August hat die Bundesregierung aufgrund der humanitären Lage in Gaza einen Lieferstopp verhängt, der nach dem erreichten Waffenstillstand wieder aufgehoben wurde. Im vergangenen Jahr haben Sie deutlich gemacht, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen. Sie knüpften Ihre Bedingungen für Rüstungsexporte jedoch an die Einhaltung von Menschenrechten. Wie beurteilen Sie die Gemengelage ein Jahr später?
Jüsten: An dieser Einschätzung hat sich bei uns nichts geändert. Nach diesem wirklich bestialischen Angriff der Hamas aus dem Gazastreifen heraus am 7. Oktober 2023 hat Israel nach wie vor das Recht der Selbstverteidigung. Das hat es in den letzten Jahren natürlich auch genutzt. Die reale Bedrohungslage Israels existiert nach wie vor. Von daher bekommt Israel auch aus einem guten Grund noch immer Rüstungen aus der Bundesrepublik Deutschland. Israel sollte sich verteidigen können.
DOMRADIO.DE: In diesem Jahr gab es Berichte über Angriffe radikaler jüdischer Siedler auch auf Christen im Westjordanland. Sie sollen zum Teil von israelischen Soldaten unterstützt worden sein. Welche Bedeutung messen Sie als Kirchenvertreter diesen Berichten bei?
Jüsten: Wir schauen natürlich sehr darauf, dass Israel das humanitäre Völkerrecht beachtet und respektiert; sowohl in den besetzten Gebieten als auch im Gazastreifen. Wann immer wir eindeutige Nachrichten haben, dass sich Israel daran nicht hält oder halten sollte, treten wir mit unseren israelischen Freunden in Gespräche ein.
DOMRADIO.DE: Sie sprachen auch von möglichen Sanktionen. Welche Sanktionen wären das in diesem Fall?
Jüsten: Der Bundeskanzler hat die Waffenlieferung für den Gazastreifen in der Vergangenheit ausgesetzt – wie wir finden, zu Recht. Er sagte, der damals neu einsetzende Krieg gegen Gaza finde nicht unsere Unterstützung und deshalb könne es keine Waffenlieferungen geben. Das haben wir unterstützt.
Wir finden die Waffenlieferungen in dieses Gebiet aktuell auch etwas verfrüht, weil wir noch nicht erkennen können, dass sich die Lage im Gazastreifen so stabilisiert hat, dass wir von einer friedlichen Ordnung ausgehen können. Darüber hinaus ist die humanitäre Lage der Menschen im Gazastreifen katastrophal.
DOMRADIO.DE: Die Rüstungsexportzahlen für die Ukraine sind im ersten Halbjahr 2025 sehr stark zurückgegangen. Gleichzeitig greift Russland das Land mit immer massiverer Gewalt an. In den letzten Tagen scheint jedoch eine Lösung des Konflikts in Sicht zu sein. Auch zwischen Israel und der Hamas herrscht – zumindest offiziell – ein Waffenstillstand. Was glauben Sie: Wie werden sich die Zahlen der Rüstungsexporte für Israel und die Ukraine in Zukunft entwickeln?
Jüsten: Das hängt in der Tat sehr stark von dem Kriegsgeschehen in den Ländern ab. Sobald die Waffen schweigen, braucht es natürlich keine Rüstungsexporte mehr. Deshalb sind wir dem Bundeskanzler und der Bundesregierung dankbar, dass es ihnen gelungen ist, diesen Gipfel nach Berlin zu holen und konkrete Fortschritte auf dem Weg zu einem Waffenstillstand in der Ukraine zu machen; nicht zu den Bedingungen Russlands, sondern der Ukraine.
Als das angegriffene Land, welches das Recht hat, sich zu verteidigen, muss es selbstverständlich mit seinen Forderungen in einem Waffenstillstandsabkommen vorkommen. Das haben die Europäer richtigerweise erkannt. Sie haben sich an die Seite von Selenskyj gestellt und damit einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass die US-amerikanische Position nun eine etwas andere ist. Wir hoffen sehr, dass die Waffen in diesem Land bald schweigen.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.