DOMRADIO.DE: Was war das für ein Moment, nachdem bei der Auszählung bekanntgegeben wurde, dass die Stimmen für Merz nicht reichen?
Prälat Dr. Karl Jüsten (Leiter des Katholischen Büros in Berlin): Es herrschte erst mal eine Art Schockstarre im Parlament. Es gab Stille, eine kurze Sammlung und dann hat Frau Klöckner das sehr souverän moderiert und im Grunde genommen die Sitzung unterbrochen. Es hat auch keine weiteren Aussprachen mehr im Parlament gegeben und alle sind auseinander gegangen.
Die AfD ist noch im Plenum geblieben, oben auf der Tribüne saßen noch die Gäste, aber das hat sich dann auch verlaufen. Jetzt sind wir gewahr geworden, dass das Plenum heute nicht mehr zusammenkommen wird. Möglicherweise wird Frau Klöckner noch einmal kurz formal die Sitzung beschließen oder sagen, dass die Sitzung unterbrochen bleibt.
Aktuell wird gerade über die Frage gerätselt, ob am Mittwoch noch eine Wahl stattfinden kann, - dann muss es aber einen besonderen Beschluss geben - oder ob am Freitag gewählt wird und wie jetzt zu verfahren ist. Das wird gerade zwischen den Fraktionen verhandelt.
DOMRADIO.DE: Was haben Sie selber in dem Moment gedacht?
Jüsten: Ich gestehe, dass ich heute Morgen ein ungutes Gefühl gehabt habe. Ich habe mich schon gefragt, ob das im ersten Wahlgang klappt.
Wie das immer so ist, dann kennen sich die Leute in den Satzungen nicht mehr so richtig aus. Ich selber habe erst mal überlegt, wie es jetzt weitergeht.
Jetzt haben wir Gewissheit, dass heute nicht mehr gewählt wird. Ich bin davon ausgegangen, dass sie vielleicht noch heute wählen würden, aber das haut nicht hin. Ich habe mich natürlich auch gefragt, wie es jetzt Herrn Merz geht. Das ist eine ganz furchtbare Situation vor den Augen der Weltöffentlichkeit, eine solche Niederlage hinzunehmen.
Das wird er wahrscheinlich gar nicht so unmittelbar verdauen können, weil er jetzt natürlich überlegen muss, wie es weitergeht. Die Familie saß mir schräg gegenüber, die war natürlich auch entsetzt.
DOMRADIO.DE: Wir wissen natürlich nicht, was im Hinterzimmer bei der CDU/CSU-Fraktion und bei der SPD passiert. Natürlich wird man versuchen, einige dazu zu bewegen, doch für den Kanzlerkandidaten bei der nächsten Wahl zu stimmen. Für wie erfolgreich halten Sie dieses Unterfangen?
Jüsten: Man weiß nicht, was die Motivlage derjenigen war, die ihn nicht gewählt haben. Vielleicht haben einige gesagt, wir wollen uns jetzt nochmal für irgendwelche Dinge rächen, die sie an Merz gestört hatten. Vielleicht sind einige unzufrieden mit dem Koalitionsvertrag. Vielleicht sind welche unzufrieden mit dem Umgang mit Frau Esken. Vielleicht sind bei der CDU einige unzufrieden, weil Herr Merz mit dem riesigen Schuldenpaket Wahlversprechen gebrochen hatte. Das wissen wir alles nicht.
Das sind aber möglicherweise alles Leute, die durchaus eine stabile Regierung haben wollen und die vielleicht nach diesem Protestverhalten im ersten Wahlgang, ihn im nächsten Wahlgang wählen werden. Aber das müssen jetzt die Fraktionen eruieren und da müssen jetzt Gespräche geführt werden, auch mit den einzelnen Fraktionsmitgliedern.
Ich vermute nicht, dass sich diejenigen, die ihn nicht gewählt haben, jetzt dazu bekennen. Vielleicht gibt es den einen oder die andere. Aber da wird im Grunde genommen geguckt werden, waren das Proteststimmen oder sind das Stimmen, die dauerhaft Merz für eine stabile Regierung fehlen werden? Wenn das der Fall ist, macht es natürlich keinen Sinn, dass er sich wählen lässt.
DOMRADIO.DE: Die Abgeordneten von der AfD freuen sich in dieser Situation. Für wie gefährlich halten Sie diesen Moment für die Demokratie?
Jüsten: Das halte ich zunächst für die Demokratie für nicht gefährlich, denn das sieht die Demokratie vor, dass ein Kanzler gewählt wird. Dann kann es auch passieren, dass er nicht gewählt. Das ist zunächst ein normaler Vorgang. Wir haben stabile Verfahren. Das ist alles soweit geklärt.
Ich glaube nicht, dass die Union jetzt sagt, mit der AfD koalieren zu wollen. Im Gegenteil, ich glaube, da wird Merz jetzt nochmal eher härtere Kante zeigen.
Herr Söder hat gesagt, diese Regierung hätte noch einen Schuss frei. Der Schuss ist rausgegangen und ist ins Nirvana gegangen. Jetzt gibt es vielleicht noch einen zweiten und ich glaube, die wissen schon, welche Verantwortung sie haben.
Deshalb sehe ich nicht, dass das jetzt eine Krise der Demokratie ist. Im Gegenteil, Demokratie sieht das vor, dass man Kanzler nicht wählt. Jetzt muss man sehen, wie mit der Situation umgegangen wird.
DOMRADIO.DE: Gibt es in diesem Moment irgendetwas, was auch die Kirchen tun können?
Jüsten: Wir Kirchen können den einzelnen Abgeordneten Mut zu sprechen. Wir können natürlich auch appellieren, dass sie beim nächsten Wahlgang eine stabile Regierung wählen. Denn Deutschland braucht eine stabile Regierung. Wir brauchen eine starke Regierung, da die Herausforderungen in diesem Land und in der Welt immens groß sind.
Das ist jetzt nicht die Stunde, wo man persönliche Unzufriedenheiten herausträgt. Vielleicht kann die Kirche sagen, es geht hier ums Gemeinwohl, es geht ums große Ganze, mehr kann die Kirche jetzt aber dazu nicht sagen. Sie kann an die Menschen appellieren, mit der Situation souverän umzugehen und die Ruhe zu bewahren.
DOMRADIO.DE: Wenn Merz beim nächsten Wahlgang die nötigen Stimmen erhält, wird er Bundeskanzler und durch den Bundespräsidenten vereidigt. Erwarten Sie, dass Merz als bekennender Katholik die Gottesformel verwenden wird, wie Angela Merkel damals? Schließlich ist er CDU-Politiker. Oder hält er es wie Olaf Scholz und entscheidet sich dagegen?
Jüsten: Ich bin fest überzeugt davon, dass er die Eides-Formel spricht. Herr Merz ist in der Tat ein bekennender Christ, ein engagierter Katholik und seine Frau ist eine engagierte evangelische Christin. Das kann ich mir gar nicht anders vorstellen.
DOMRADIO.DE: Es gibt nicht nur Friedrich Merz. Die Ministerinnen und Minister stehen ebenso fest und wollen ihre Arbeit im Bundestag antreten. Welche Personalien waren für Sie Überraschungen, beziehungsweise vorhersehbar?
Jüsten: Ich mache es im Grunde genommen wie beim Konklave, ich nehme was kommt. Von daher bin ich überrascht und gleichzeitig auch nicht überrascht. Ich finde es gut, dass es ein gutes Mixum geworden ist aus erfahrenen Persönlichkeiten, die schon Regierungserfahrung haben, aber dass auch neue Gesichter dabei sind, teilweise auch sehr junge Politikerinnen vor allen Dingen, die ein Ministeramt antreten, die aber nicht in dem Sinne Neulinge sind.
Die haben schon gewisse politische Erfahrungen, etwa die neue Bauministerin oder die neue Entwicklungshilfeministerin.
Aber auch von der Union gibt es neue Gesichter oder wiedergekommene Gesichter. Das finde ich gut und ich finde, man sollte denen allen eine Chance geben. Ich finde, diese Kritik, die im Vorfeld schon geübt wird, vollkommen unangemessen. Man muss jetzt dieser neuen Regierung eine Chance geben. Sie haben sich einiges vorgenommen und darauf kommt es an.
DOMRADIO.DE: Das Kabinett wird, zumindest was die Union angeht, katholischer als das letzte. Spielt im politischen Alltag die Religionszugehörigkeit einzelner Ministerinnen und Minister eine Rolle? Falls ja, wo merken Sie das?
Jüsten: Das merken wir etwa an der Beteiligung bei Gottesdiensten, das merkt man aber auch bei politischen Entscheidungen, ob ich aus dem Geist des Evangeliums heraus Entscheidungen treffe oder nicht.
Das heißt nicht, dass die Entscheidungen schlechter sind, wenn sie nicht aus dem Geist des Evangeliums getroffen werden, aber sie werden oftmals mit einer anderen Haltung gesprochen.
Das merkten wir etwa stark bei den Lebensschutzthemen, das spüren wir aber auch, wenn es um innere und äußere Sicherheit geht. Von daher spielt das schon eine Rolle.
DOMRADIO.DE: Wie schätzen Sie die zukünftige Zusammenarbeit aus Ihrer Sicht mit der katholischen Kirche ein?
Jüsten: Wir tragen unsere Anliegen immer vor, wenn sie sachlich begründet sind. Das haben wir bei den früheren Regierungen gut machen können und ich glaube, das können wir jetzt auch machen. Es kommt immer auf das gute Argument an und dann hat man offene Türen.
Die meisten Themen bearbeiten sie auf der Ministerialebene. Wobei es ist nicht so, dass die meisten Themen direkt auf Minister-Ebene bearbeitet werden. Denn viele Sachen sind auch zwischen den Parteien nicht unbedingt unstrittig, wenn irgendwelche Baurechtsnormen geändert werden sollen oder ähnliches. Von daher ist das nicht in allen Fragen so entscheidend, wer gerade regiert.
DOMRADIO.DE: Morgen gibt es ein kirchliches Großereignis, das auch in dieser Woche stattfindet und Sie als Katholik ebenfalls betrifft und interessiert. Ein Ereignis abseits der politischen Welt, die Wahl eines neuen Papstes beginnt. Was erwarten Sie von dem Konklave und dem nächsten Oberhaupt?
Jüsten: Ich erwarte natürlich, dass sie den Besten wählen und dass wir einen Papst bekommen, der auch für Deutschland gut ist. Einmal für die Reformprozesse, die wir innerhalb Deutschlands anstrengen, aber eben auch für die Politik. Denn die Bundesrepublik Deutschland und der Vatikan haben immer ein sehr enges und vertrauensvolles Verhältnis gehabt, übrigens schon die letzten Jahre. Egal, wer regiert hat.
Bei vielen Themen hat der Vatikan und Deutschland an einem Strang gezogen, etwa bei dem Klimaabkommen. Da hoffe ich natürlich, dass von dem künftigen Papst da auch Impulse ausgehen, dass er vielleicht ein bisschen die Linie von Franziskus weiterführt, insbesondere was die Migration betrifft, aber auch den Klimaschutz, die Friedensinitiativen des Papstes, dass die aufgegriffen werden.
Ich hatte schon die Möglichkeit, mit Herrn Merz darüber zu sprechen. Der hat mir schon signalisiert, dass er da alsbald zum neuen Papst möchte, um mit ihm über diese wichtigen Fragen zu sprechen.
Das Interview führte Katharina Geiger.