Seit fünf Jahren verhandelt die EU mit der Türkei über eine Mitgliedschaft

Beitritt nicht in Sicht

Nachdem die Türken sich Mitte September für eine Verfassungsreform entschieden haben, kann ein neues Kapitel in den Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur EU geöffnet werden. Seit Oktober 2005 verhandeln die EU und die Türkei über Fragen wie Zoll- und Handelsunion, Menschenrechte, Pressefreiheit und Urheberrecht. Ein Datum für einen Beitritt ist aber noch lange nicht in Sicht.

 (DR)

Wer in die EU will, muss die europäische Rechtsprechung anwenden. Insgesamt 35 Rechtskapitel werden überprüft, zwölf sind bereits erfolgreich abgeschlossen. In der Türkei-Frage sind sich die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten jedoch alles andere als einig. Am meisten Unterstützung kommt aus Großbritannien. "Dies ist eine Sache, in der ich sehr leidenschaftlich bin", sagte Premierminister David Cameron in einer Rede vor der türkischen Handelskammer im Sommer in Ankara. "Ich will, dass wir eine Straße von Ankara nach Brüssel bauen." Für den britischen Regierungschef sind die Gegner der türkischen EU-Mitgliedschaft voreingenommen und lassen sich enorme wirtschaftliche Vorteile entgehen.



Die Marktrelevanz des Beitritts stellt niemand infrage. Selbst Griechenland, Portugal oder Spanien wären trotz Konkurrenz in vielen Branchen an Handelserleichterungen mit der Türkei interessiert. "Knackpunkt bleibt der Zypern-Konflikt", sagt Andreas Marchetti, Türkeiexperte am Zentrum für europäische Integrationsforschung in Bonn. Seit 1974 hat die Türkei den Norden Zyperns besetzt und nur den Südteil als souveränen Staat anerkannt. Waren aus Zypern dürfen nicht über türkische See- oder Flughäfen eingeführt werden. Acht Verhandlungskapitel für den Beitritt sind solange blockiert, bis die Türkei einlenkt.



Deutsche und Franzosen gewichtige Gegner eines Beitritts

Zu den größten Skeptikern mit Blick auf einen EU-Beitritt der Türkei gehören Deutschland und Frankreich. Sie würden lieber eine privilegierte Partnerschaft mit dem Land eingehen. Bei einem Treffen mit türkischen Regierungsvertretern in Brüssel plädierte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) dafür, die Verhandlungen nicht auf die Mitgliedschaft zu verkürzen: "Wir sind als Europäer gut beraten, diese Beziehungen fair und intensiv auszubauen. Wir werden sehen, wie das Ergebnis am Ende aussieht."



Deutschland gehöre zu den wenigen Ländern, in denen die Integrationsfähigkeit der Türkei vehement angezweifelt wird, sagt der Türkeiexperte Marchetti. "Dies ist eine deutsche Debatte, vor allem in Bezug auf die Religion. In einem katholischen Land wie Polen spielt dies keine Rolle." Auch Tschechien, Bulgarien oder das Baltikum haben wenig Probleme mit der Türkei und dringen auf einen schnellen Beitritt.



Lange Liste von Menschenrechtsverletzungen

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gibt sich große Mühe, um den Anforderungen der EU gerecht zu werden. Die Verfassungsreform soll neuen Schwung in die Verhandlungen bringen. "Die Regierung bewegt sich, weil sie in die EU will", sagt Barbara Lochbihler, Europaabgeordnete der Grünen. Aber die lange Liste von Menschenrechtsverletzungen werfe kein gutes Licht auf die türkische Regierung.



Hilfsorganisationen berichten von Misshandlungen in Gefängnissen, von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen, von Diskriminierung von Homosexuellen. Erst Anfang September verurteilte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die Türkei zu einer Mitschuld am Mord des Journalisten Hrant Dink durch rechtsextreme Nationalisten. Es reiche nicht aus, dass Todesstrafe und Folter per Gesetz abgeschafft wurden, sagt Lochbihler. "Die Türkei muss sich noch mehr anstrengen."



Nach Einschätzung von Experten werden weder die EU noch die Türkei die Beitrittsverhandlungen abbrechen. Dennoch scheint die Mitgliedschaft in weite Ferne gerückt. Im November veröffentlicht EU-Erweiterungskommissar Füle den nächsten Fortschrittsbericht. Es wird nicht der letzte sein.