Ein Mittwoch im Dezember. In Berlin eröffnet Bundesinnenministerin Nancy Faeser eine neue Runde der Deutschen Islamkonferenz. In Bonn versucht Bernd Ridwan Bauknecht an der Elisabeth-Selbert-Gesamtschule für etwas mehr Ruhe zu sorgen. 18 Schülerinnen und Schüler der fünften Klasse nehmen in dieser Stunde regulär an seinem Islamunterricht teil - weitere sechs kommen heute dazu, weil anderswo Unterricht ausfällt.
Wer an Deutschlands Schulen arbeitet, muss improvisieren können: zu wenig Personal, zu hohe Krankenstände, gerade jetzt im Winter, wenn die Viruserkrankungen grassieren. Bevor Herr Bauknecht also mit "Salam", dem arabischen Friedensgruß, beginnen kann, muss er sich um Anderes kümmern. Eine Flasche Apfelschorle rollt über den Boden.
Bauknecht ermahnt eine Schülerin, ihre Schere wegzupacken. Eine andere Klassenkameradin muss erst ihr Kaugummi ausspucken.
Bauknecht beginnt musikalisch. Er hat seine Gitarre mitgebracht und ein selbst komponiertes Lied über den Propheten Mohammed. "Geboren in Mekka als Prophet bestimmt. Er war schon bald ein Waisenkind. Abdullah, seinen Vater sah er nie; Amina, seine Mutter ging zu früh." Danach geht es um Sure 96 aus dem Koran. "Lies, und dein Herr ist der Edelste, der das Schreiben mit dem Schreibrohr gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste."
"Lernen ist wichtig, um etwas im Leben zu erreichen."
Warum ist Lernen wichtig, und welche Bedeutung hat Lernen im Islam? Bauknecht zeigt dazu einen Clip des humoristischen Aufklär-Kollektivs "Datteltäter" über die Kunst der islamischen Kalligraphie. Und möchte von seinen Schülern wissen, von wem sie etwas lernen. "Man lernt sehr viel von seinen Eltern", sagt Kaan. "Man lernt etwas, wenn man aufpasst", ergänzt Sofie. Kaans Eltern kommen aus der Türkei, Sofies Mutter aus dem Sudan, der Vater aus Ägypten. Andere haben Wurzeln in Marokko, Afghanistan oder Bosnien-Herzegowina. "Lernen ist wichtig, um etwas im Leben zu erreichen." So bunt die Herkunftsgeschichten sind, so groß scheint die Einigkeit in diesem Punkt.
Mehr als 1.200 Schülerinnen und Schüler besuchen die Gesamtschule im Bonner Stadtbezirk Bad Godesberg. Fünf Lehrer und zwei Referendare sind für den islamischen Religionsunterricht zuständig. Eine ungewöhnlich gute Besetzung, wie Direktor Guido Meyer erläutert. Weil man sich früh dazu entschieden habe, das Fach anzubieten.
In ganz Nordrhein-Westfalen erhielten laut Schulministerium im Schuljahr 2021/22 rund 24.000 Schülerinnen und Schüler Islamunterricht - gerade einmal fünf Prozent aller 457.000 muslimischen Mädchen und Jungen. Heißt im Umkehrschluss: Um die Nachfrage zu decken, bräuchte es deutlich mehr als die bisher 325 Lehrkräfte. Erfolgsmeldungen gibt es aber auch: Am Heisenberg Gymnasium in Gladbeck legten im Schuljahr 2018/19 die ersten fünf Schülerinnen und Schüler im Fach "Islamischer Religionsunterricht" ihre mündliche Abiturprüfung ab.
Das könnte eines Tages auch an der Elisabeth-Selbert-Gesamtschule möglich sein. Im Oberstufenkurs von Melih Turan bohren sie unabhängig davon schon dicke Bretter. Auf dem Programm steht die Abhandlung "Aiyuha al-walad" ("O Kind!") des persischen Philosophen und Mystikers Abu Hamid Al-Ghazali. Das, was der Denker vor rund 900 Jahren niederschrieb, gilt als "Paradebeispiel für morgenländische Pädagogik", sagt Turan, bevor die Schülerinnen und Schüler in Gruppenarbeit die Hauptaussagen des Textes herausarbeiten sollen.
Frage an die 18-jährige Cheima Dhouib, die in der ersten Reihe sitzt. "Was bedeutet Dir der Religionsunterricht?" Cheima, deren Eltern aus Tunesien stammen, guckt ein wenig belustigt. "Na, das betrifft uns alle, wir sind doch alle gläubige Menschen." Im Kurs von Melih Turan könne man über sich selbst nachdenken. Herrn Turans Aussage in der Pause kurz zuvor kommt einem in den Sinn: Viele Eltern wünschten sich für ihre Kinder einen anderen Unterricht als die Unterweisungen der eher konservativ geprägten Moscheegemeinden.
Der 28-jährige Pädagoge gehörte zum zweiten Abschlussjahrgang des von Mouhanad Khorchide geleiteten Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster. Khorchide hat sich als progressiver Vertreter des Islams einen Namen gemacht. Das Studium hätte noch etwas mehr in die Tiefe gehen können, findet Turan. Seine Berufswahl hat er gleichwohl keinen Tag bereut. Den Religionsunterricht werten er und sein Kollege Bauknecht als "Erfolgsmodell". Weil er dazu beitrage, dass sich muslimische Schülerinnen und Schüler akzeptiert fühlten.
Über islamistischen Fundamentalismus aufklären und dagegenhalten
Und weil man Vorurteile und Klischees über den Islam abbauen könne. Trotzdem: Wie steht es um die Dauerbaustelle Extremismus? Das sei an der Elisabeth-Selbert-Schule eigentlich kein Thema, beteuern die beiden Lehrer. Zugleich räumen sie ein, dass islamistische Fundamentalisten in den Sozialen Medien derzeit "eine kleine Renaissance" erleben. Ihr Rezept: dagegenhalten, aufklären, die von Fanatikern gekaperten Koranverse in ihren Zusammenhang setzen.
Für die Zukunft wünschen sich Turan und Bauknecht, dass der islamische Religionsunterricht noch stärker auf aktuelle gesellschaftliche Debatten eingeht, etwa auf den Umgang mit lesbischen und schwulen Menschen. Bernd Ridwan Bauknecht, der als Erwachsener zum Islam konvertierte, kann sich mittelfristig einen gemeinsamen interreligiösen Unterricht für Christen und Muslime vorstellen.
Manchmal ergibt sich das schon jetzt - wie an diesem Mittwoch in der fünften Klasse. Der Exkurs zur islamischen Kalligraphie konnte offenbar auch das Interesse der sechs "Gastschüler" wecken. Einer von ihnen hat ein paar arabische Zeichen in sein Heft gemalt. Und in Berlin? Appelliert Innenministerin Faeser an Muslime und Nicht-Muslime, miteinander anstatt übereinander zu reden.