Schottland möchte trotz Brexit EU-Mitglied bleiben

"Druckmittel Richtung London"

Großbritannien hat "Nein" zur EU gesagt. Den Schotten passt das gar nicht, weshalb diese wiederum einen Ausstieg aus dem Vereinigten Königreich erwägen. Mit Erfolg? Thomas Jantzen, deutscher Pfarrer in Schottland, mit einem Stimmungsbericht.

Schottland strebt neues Unabhängigkeitsreferendum an / © Jane Barlow (dpa)
Schottland strebt neues Unabhängigkeitsreferendum an / © Jane Barlow ( dpa )

domradio.de: Wie haben Ihre Gemeindemitglieder am 24. Juni 2016, dem Tag nach der Brexit-Abstimmung, reagiert?

Thomas Jantzen (Pfarrer der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Edinburgh): Die Reaktionen waren sehr emotional. Die ganze Nation und wir selbst auch waren von dem Ergebnis geschockt, weil es von niemandem erwartet wurde. Das ging bis in unsere Grundschule hinein, wo die Freundin von unseren Töchtern weinend in die Schule kam und gefragt hat, ob meine Tochter jetzt das Land verlassen muss. Alle, mit denen ich gesprochen habe, waren perplex. Auch die Politik brauchte erstmal ein paar Tage, um sich neu zu sortieren. Das war schon ein Schock.

domradio.de:  Wie haben Sie persönlich die Nachricht an dem Morgen aufgenommen?

Jantzen: Gegen zwei Uhr morgens sah es noch so aus, als würde für den Verbleib in der EU gestimmt werden. Mein Entsetzen am nächsten Morgen war groß, als ich den Fernsehsender BBC eingeschaltet habe und die neuesten Ergebnisse sah. Ich musste mich dann erstmal setzen,  habe eine Stunde auf den Fernseher geschaut und musste realisieren, dass sich dieses Ergebnis nicht mehr ändern wird.

domradio.de: Sie sind nicht nur für Schottland zuständig, sondern haben eine große Gemeinde, die auch Teile von England umfasst. Brauchen Sie dann zukünftig ein Visum?

Jantzen: Wir versuchen, mit ein bisschen Humor daran zu gehen. Mit meiner Frau zusammen bin ich zuständig für die deutschsprachigen Gemeinden in Schottland und in Nordostengland. In Newcastle, England, haben wir eine deutschsprachige Gemeinde. Es werden zwei spannende Jahre, auch die Zeit danach wird sehr spannend. Wir können uns im Moment nicht vorstellen, wie sich das anfühlen wird. Wir rechnen damit, dass es zu einer Entscheidung kommt, mit der EU-Bürger permanent im Land bleiben können, aber das wissen wir noch nicht. 

domradio.de: Nicola Sturgeon, die schottische Ministerpräsidentin, will erneut abstimmen lassen. Dieses Mal wird es darum gehen, ob Schottland in die Unabhängigkeit möchte. Glauben Sie, dass sich die britische Premierministerin Theresa May darauf einlassen wird?

Jantzen: Wenn sie das allein entscheiden könnte, würde sie sich klar dagegen aussprechen. Aus meiner persönlichen Sicht ist es nicht gut, wenn man der Meinung ist, der Brexit sei eine falsche Entscheidung. Man kann diesen Fehler nicht verbessern, indem ein kleines Teilland diese falsche Entscheidung auf einem kleineren Maßstab wiederholt und aus dem Vereinigten Königreich austritt. Das ist dasselbe, nur auf einer anderen Skala. Ich bin gespannt, wie es wird und denke, dass Nicola Sturgeon das eher als Druckmittel einsetzt, um in Westminster wahrgenommen zu werden.

domradio.de: Angenommen, Schottland wird unabhängig. Ist das Land ohne Großbritannien überlebensfähig?

Jantzen: Theresa May sagt in Richtung Schottland, dass der Markt im Vereinigten Königreich der größte Absatzmarkt für die schottische Wirtschaft sei. Das Gleiche trifft auf Großbritannien und den Binnenmarkt der EU zu. Ich denke, dass Schottland mit seinen fünf Millionen Einwohnern zu klein ist. Es hat zwar Bodenschätze, aber es erfüllt nicht die Kriterien, um selbstständig ohne Probleme in die EU aufgenommen zu werden. 

Das Interview führte Tobias Fricke.


Quelle:
DR