DOMRADIO.DE: Wie können Religionen zum Frieden beitragen, wenn sie oftmals selbst das Problem sind, wenn sich Konflikte entzünden?
Annette Schavan (Ehemalige deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl): Indem weltweit die Stimmen derer stärker werden, die das Problem benennen. Auch müssen die Stimmen derer stärker werden, die immer wieder Initiativen ergreifen, damit die Religionen tatsächlich Teil der Lösung, Quelle von neuen Wegen und Strategien und vor allem Wege dagegen sind, sich für Gewalt vereinnahmen oder sich instrumentalisieren zu lassen. Diese schreckliche Verbindung Gott und Gewalt muss durchbrochen werden.
DOMRADIO.DE: Wir erfahren heute Gewalt durch den sogenannten Islamischen Staat. Aber auch Patriarch Kyrill heißt Gewalt gut. Die Kreuzritter im Mittelalter haben Gewalt ausgeübt und Kriege geführt. Wie gehen wir damit um?
Schavan: Das ist eine historische Erfahrung. Leider ist es aber bis heute so. Wenn wir den Moskauer Patriarchen reden hören, wenn er zum Beten für Putin aufruft, weil der gegen das Böse einen Krieg führt oder wenn wir an die islamischen Staaten denken, dann wird deutlich, dass die Gefahr nicht gebannt ist. Es setzt sich fort.
Diejenigen, die so reden, wissen, dass Religionen eine große Wirkung haben. Über 80 Prozent der Menschen, die heute leben, sagen von sich, glaubende Menschen zu sein. Es ist keine Kraft, die – wie das in Europa manches Mal gesagt worden ist – zurückgeht, die keine öffentliche Relevanz hat.
Religion hat so viel öffentliche Relevanz wie selten zuvor. Deshalb ist es so wichtig, gegen diese Vereinnahmungen, gegen diese Instrumentalisierung von Gewalt und Terror anzuwirken, auch in der internationalen Politik. Sie braucht mehr Religionskompetenz. Sie braucht mehr Blick darauf, dass das Gespräch zwischen Politik und Religionen für den Frieden grundlegend wichtig ist.
DOMRADIO.DE: Was haben denn Religionen für Eigenschaften, dass sie zu mehr Frieden in der Welt beitragen können?
Schavan: Die Stärke ihrer Kraft. Die Tatsache, dass sie Quelle der Hoffnung für so viele Menschen sind und die Tatsache, dass Despoten immer auf der Suche nach den Quellen der Hoffnung in ihrem Volk sind, machen das deutlich. Und genau an diese Quellen appellieren sie mit ihrem Vorgehen, mit der Gewalt, die sie initiieren, mit den Kriegen, in die sie ihre Völker treiben.
DOMRADIO.DE: In der Erklärung, die Sie mit unterschrieben haben, steht auch, dass alle Religionsgemeinschaften eine kritische Selbstreflexion und Erneuerung brauchen. In Deutschland ist man mit dem Synodalen Weg bereits dabei. Aber aus Rom hört man Kritik und Warnungen. Wie erklären Sie sich das?
Schavan: Erneuerung im Blick auf dieses Thema ist seit langem auch ein Thema in Rom. Es ist die Diplomatie der langen Linien. Es ist Tatsache, dass der Papst trotz seiner Gebrechlichkeit nun nach Kasachstan fährt und diese Konferenz mit klaren Worten sehr prägt.
Es gibt diesen zentralen Satz von ihm: Es braucht einen Ruck und dieser Ruck, Brüder und Schwestern, muss von uns kommen.
Das ist eine Ruck-Rede gewesen. Da ist ganz eindeutig die Erneuerung im Blick auf die Gesprächsfähigkeit in dieser Welt für den Frieden gemeint.
Wie die Beziehung von Rom und Synodalem Weg in Deutschland aussieht, da würde ich mal warten, wie sich die Dinge im Herbst entwickeln. Irgendwann kommt das, was aus Deutschland erarbeitet wurde, in die weltweite synodale Entwicklung. Dann ist wichtig, dass diejenigen, die in Deutschland erneuern möchten, das Gespräch mit der Weltkirche brauchen, also nicht nur mit Rom, sondern mit Afrika, mit Asien und mit Lateinamerika.
Überall dort gibt es ja auch Erneuerungsvorstellungen. Dann wird man feststellen, wie die gemeinsame Schnittmenge ist und was wir alle als Erneuerung verstehen wollen und wo es Differenzen gibt. Über die muss dann diskutiert werden.
DOMRADIO.DE: In Deutschland kehren immer mehr Menschen der Kirche den Rücken und treten aus. Denken Sie, das könnte in unserer Gesellschaft zu weniger Frieden führen?
Schavan: Ich denke, dass viele Rücktritte und viele schlechte Nachrichten dazu führen, das Christentum und Religionen generell als nicht mehr wichtig und öffentlich relevant zu beschreiben. Das ist die große Gefahr. Der Kirchenaustritt ist eine schwierige Geschichte, weil er das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung ist.
Noch wichtiger ist vielleicht die Frage, ob sich nicht viele von denen, die austreten, weiter zum Christentum bekennen. Denn im Rest der Welt gibt es keinen Kirchenaustritt. Deshalb sollten wir nicht so schnell annehmen, dass Menschen, die die Kirche verlassen, ihren Glauben und ihre Vorstellungen von Werten, die aus der Geschichte des Christentums kommen, ablegen.
Sie bleiben oftmals davon geprägt. Es bleibt die Quelle ihrer Hoffnung, aber sie verbinden es nicht mehr mit der Institution.
Das Interview führte Florian Helbig.