Santiago de Compostela platzt zum Sommer aus allen Nähten

Rekordverdächtiges Jakobsjahr

Experten waren sich schon im Vorfeld einig: Das Heilige Jahr "Xacobeo 2010" dürfte in Santiago de Compostela, dem Ziel des Jakobsweges, den bislang bekannten Rahmen sprengen. Zieht man zur Jahreshälfte ein Zwischenfazit, läuft alles auf neue Rekorde hinaus.

Autor/in:
Andreas Drouve
 (DR)

Allein im Mai erhielten mit 28.787 Pilgern fast doppelt so viele ihre Wallfahrtsurkunde wie im selben Monat des Vorjahres. Täglich veröffentlicht das Pilgerbüro in Santiago auf seiner Homepage die Zahlen der Ankömmlinge vom Tag zuvor. Derzeit liegen sie konstant über 1.000 - wobei die zulaufstärksten Ferienmonate Juli und August erfahrungsgemäß weitere Maßstäbe setzen.

Die Statistiken markieren indes nur die Spitze des Eisbergs, führen sie doch einzig die "echten Pilger" auf, die per Pilgerausweis nachweisen, mindestens die letzten 100 Kilometer zu Fuß beziehungsweise die letzten 200 Kilometer per Fahrrad zurückgelegt zu haben. Nirgends gibt es indes verlässliche Zahlen zu den Motorisierten - die ja nicht weniger glaubensstark sein müssen, nur weil sie gruppenweise in Bussen anreisen. Trotz Wissens um den Ich-bin-dann-mal-weg-Boom und mancherorts kühn prognostizierte zehn Millionen Stadtbesucher in diesem Jahr: Viele sind auf den Ansturm nicht vorbereitet. Santiago platzt aus allen Nähten und empfängt seine Ankömmlinge zum Teil mit organisatorischem Chaos.

Aus Sorge vor Anschlägen werden Aus- und Eingänge der Kathedrale von Polizei und Wachdiensten kontrolliert, denen es bei der Frage, welche Begleitstücke in welcher Größe mit hinein dürfen, ganz erheblich an Koordination mangelt. Seit den islamistischen Anschlägen in Madrid 2004 herrscht Rucksack-Phobie. Selbst Frauen mit landläufigen Handtaschen wurden je nach Gemütszustand der Kontrolleure schon abgewiesen. Dann heißt es schroff: Gepäckaufbewahrung neben dem Pilgerbüro. Ein kostenpflichtiges Novum, so wie der erstmals eingeführte Zwang für Gruppen, trotz Kathedral-Guide als Quasi-Eintrittsgeld zusätzlich Kopfhörer für alle zu bezahlen.

Auch wenn der Führer leise über Mikrofon spricht und der Geräuschpegel in der Kathedrale auf diese Art eingedämmt wird: Die Restaurierung des eingerüsteten Glorienportals verursacht einen weitaus erheblicheren Lärm, als es Stimmenhall je vermocht hätte. Unfassbar, dass die Arbeiten am romanischen Wunderwerk des Meisters Mateo nicht pünktlich zum Jakobusjahr abgeschlossen wurden.

Das nächste Mal 2021
Heilige Jahre lassen sich seit ihrer Einführung im 12. Jahrhundert durch Papst Calixt II. genau vorausberechnen: immer dann, wenn der Jakobstag, der 25. Juli, auf einen Sonntag fällt. Das wird nächstes Mal 2021 der Fall sein - nach 1993, 1999 und 2004 eine extrem lange Zeitspanne also. Auch deshalb ist die PR-Maschinerie im Zeichen von Glaubenstourismus besonders eifrig zu Werke gegangen. "Jetzt ist der Moment", haben die Fremdenverkehrsämter plakativ verkündet.

Überdies werden Heilige Jahre der Moderne in Spanien mit bizarren Strategien ins Bewusstsein gepusht, die von Bandenwerbung in Fußballstadien bis zu Aufdrucken auf Supermarkttüten reichen. Das diesjährige "Xacobeo"-Logo findet sich sogar auf isotonischen Fitnessdrinks.

Einzig während der Heiligen Jahre steht zudem die Heilige Pforte der Kathedrale offen. Die Warteschlangen können lang bis sehr lang sein. Im Inneren kommt häufig der riesige Weihrauchwerfer zum Einsatz; doch wann genau der "Botafumeiro" mit bis zu 70 Stundenkilometern spektakulär über die Köpfe durchs Querschiff schießt, entscheidet der Klerus. Örtliche Hoteliers ziehen mit Blick auf kommende Jahre ernsthaft eine Einflussnahme in Erwägung, vor allem in der Nebensaison, "um die Pilger nicht zu enttäuschen", so heißt es. Zusatzanreize gibt während des laufenden "Xacobeo" ein umfangreiches Kulturprogramm.

Für Ende Juli, wenn in Santiago die Patronatsfeiern anstehen, sind Konzerte von Mark Knopfler und Jean Michel Jarre angekündigt. Im November, wenn die Saison eigentlich zu Ende ist, wird der prominenteste "Xacobeo"-Gast in Santiago eintreffen: Papst Benedikt XVI. Bis dahin könnte der Rekord der offiziellen Pilgerankünfte bereits geknackt sein. Im Heiligen Rekordjahr 2004 waren es 179.944. Nun wartet die Schallmauer von 200.000.