Sankt Gallener Bischöfe ließen Missbrauchstäter gewähren

Ignoranz auf dem Rücken der Opfer

Ein Priester des Bistums Sankt Gallen soll über Jahrzehnte Kinder missbraucht haben. Bischof Ivo Fürer ignorierte die Meldungen. Der Priester wird bis heute als Seelsorger eingesetzt. Eine bedrückende Fallgeschichte.

Autor/in:
Annalena Müller
Kirche in der Schweiz / © Prath (shutterstock)

2002 richtet Sankt Gallen als erstes Schweizer Bistum eine Meldestelle für Missbrauchsbetroffene ein. Der Fall des Priesters E. M. gehört zu den ersten, die das Fachgremium behandelt. In den folgenden acht Jahren gehen weitere Meldungen ein. Später stellt sich heraus: Das Bistum weiß schon seit den 70er Jahren um die Gefahr durch den Priester.

Untätiger Bischof

Obwohl das Gremium Bischof Ivo Fürer (1995-2005) wiederholt zum Handeln auffordert, bleibt der Bischof untätig. Erst sein Nachfolger, Markus Büchel, versetzt E. M. 2012 in ein Kloster. Aber auch er unterbindet die Seelsorgetätigkeit des Priesters nicht. Ein Protokoll über Jahrzehnte des Wegschauens. 

Im April 2002 wendet sich eine Frau an das neugegründete Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe. Sie berichtet von Missbrauch durch E. M. in ihrer Kindheit und im Erwachsenenalter. Und sie informiert das Gremium über die Gerüchte, die über E. M. kursieren. Der Priester soll sich auch an Kindern eines Heims vergangen haben.

Vorfälle im Kinderheim

Später meldet sich eine weitere Frau. Sie hat in den 90er Jahren in dem Heim gearbeitet. Kinder hätten von "komischen Küssen mit der Zunge", berichtet und von Griffen unter das Nachthemd beim Zubettgehen. Andere Betreuende hätten von Heimkindern erzählt, die auf einmal nichts mehr mit dem Priester zu tun haben wollten.

Das Gremium fordert Bischof Fürer (1930-2022) auf, den Priester aus allen Bistumsfunktionen zu entfernen. Auch sollen die Lebens- und Arbeitsfelder des Priesters durch Fachpersonen überprüft werden. Es wird eine schriftliche Mitteilung des Bischofs erbeten, welche Maßnahmen tatsächlich ergriffen wurden. Der Priester E. M. streitet alles ab und beschuldigt das Fachgremium, ihn in die Enge zu treiben. Der Bischof geht auf die Forderungen des Gremiums nicht ein, sondern stellt schriftlich Rückfragen.

Das Dossier wäschst

Tatsächlich ist das Fachgremium keine Untersuchungsbehörde – und es weist den Bischof auch darauf hin. Die Pflicht zu prüfen liegt bei ihm. Fürer müsste eine kanonische Voruntersuchung einleiten. Das möchte der Bischof aber offensichtlich nicht. Stattdessen wendet er sich 2004 an das Fachgremium der Schweizer Bischofskonferenz.

Dieses bescheinigt ebenfalls, dass die Beschuldigungen glaubwürdig seien, da sie von verschiedenen Quellen stammten. Auch trügen die Stellungnahmen von E. M. "wenig dazu bei, die mögliche Begründetheit der Beschuldigungen auszuschließen". Das Gremium empfiehlt dem Bischof, den Fall in Rom zu melden, eine Voruntersuchung zu eröffnen und die Betroffenen an staatliche Strafverfolgungsbehörden zu verweisen. Im Oktober 2005 geht bei der Sankt Galler Meldestelle eine neue Meldung ein. Das Dossier über E. M. wächst weiter. Doch Bischof Fürer unternimmt nichts. 

"Kollegialer Umgangston"

Den Forschenden der Universität Zürich, die am Dienstag ihre Missbrauchs-Pilotstudie vorlegten, fällt der "kollegiale Umgangston in der Korrespondenz" zwischen Bischof Fürer und E. M. auf. Dies lasse "eine enge Beziehung zwischen dem Bischof und dem beschuldigten Priester vermuten". Eine freundschaftliche Beziehung würde erklären, warum Fürer keine Untersuchung eröffnet und den Fall nicht in Rom meldet. Er untersagt dem Priester nur, das Kinderheim zu besuchen. 

2010 meldet sich eine weitere Frau beim diözesanen Gremium. Sie habe "eine heftige emotionale Reaktion" erlebt, als der Nachfolger als Bischof, Markus Büchel, und E. M. zusammen die Messe feierten. Es ist die vierte Frau, die sich wegen des gleichen Priesters an das Gremium wendet. Im gleichen Jahr klopft auch das Fachgremium des Bistums Chur an. E. M. soll in den 70er Jahren in einer Gemeinde im Sankt Galler Rheintal eine Person sexuell missbraucht haben.

Zwangsversetzung ins Kloster

Wieder wendet sich das Gremium an den Bischof, seit 2006 Markus Büchel. Er gewährt erstmals Einblicke in die Personalakte des Beschuldigten. Darin findet sich ein Brief aus den 70er Jahren. Der Priester hatte sich damals an den Bischof gewandt und diesen um Hilfe gebeten, wegen sexueller Fantasien, "die im Rahmen des strafrechtlich Relevanten liegen würden". 

Zwischen Dezember 2010 und 2012 kommt es zu drei Sitzungen des Fachgremiums mit Bischof Markus Büchel. Vermutlich auf Druck des Gremiums versetzt der Bischof den Priester 2012 in ein Kloster. Zwischen der ersten Meldung und seiner Versetzung liegen zehn Jahre. Seit E. M.s Brief sind sogar 40 Jahre vergangen. Auch nach der Versetzung in das Kloster ist er weiter als Seelsorger und Priester tätig. Noch im Januar 2023 sind Eucharistiefeiern mit ihm nachgewiesen. 

In dem Dossier des Fachgremiums zu E. M., das die Historiker und Historikerinnen in der Vorstudie auswerteten, fand sich kein Hinweis darauf, dass je eine kanonische Voruntersuchung eingeleitet wurde oder eine Meldung nach Rom ergangen wäre. Das Portal kath.ch hat dazu beim Bistum St. Gallen angefragt und hofft nun auf zeitnahe Antworten.

Katholische Kirche in der Schweiz

Die katholische Kirche in der Schweiz hat laut einer aktuellen Statistik rund 2,9 Millionen Mitglieder. Aufgrund von Zuwanderung sei die Zahl trotz eines zuletzt leichten Rückgangs weiter "historisch hoch", teilte das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut (SPI) mit.

Schweizer Flagge
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Quelle:
KNA