In der fünften Jahreszeit dürfen wir wieder Kind sein

Ritualisierter Rollentausch

Die Gesellschaft scheint zu infantilisieren. Zumindest in der fünften Jahreszeit darf man sich dem Drang auch ohne schlechtes Gewissen hingeben. Woher aber kommt der Wunsch, die Helden seiner Kindheit zu verkörpern?

Autor/in:
Andreas Öhler
Woher aber kommt der Wunsch, wieder Kind sein zu dürfen? / © Fabian Strauch (dpa)
Woher aber kommt der Wunsch, wieder Kind sein zu dürfen? / © Fabian Strauch ( dpa )

Biene Maja geht immer. Und auch Walt Disneys Eiskönigin wird sich im Zeitalter der Klimaerwärmung wieder als Karnevalskostüm größerer Beliebtheit erfreuen. Unter Männern steht nach dem Kinoerfolg dieses Jahr "Joker" ganz hoch im Kurs, das diabolische Gegenbild zu Batman. Was verleitet uns, die Helden unserer Kindheit zu verkörpern, während wir als Kinder im Karneval noch in Erwachsenenrollen schlüpften? Was ist passiert, dass die Eltern sich, wenn ihre Sprösslinge schlafen, die Harry-Potter-Bände greifen und verschlingen? Und schließlich: Warum tragen auch in diesem Winter wieder gestandene Frauen und Männer handgestrickte Mützen mit lustigen Tierohren?

Nicht nur an den Karnevalskostümen zeigt sich das Phänomen: Früher wurden die Kleinen in Erwachsenkleidung gesteckt, heute tragen selbst Großmütter dasselbe T-Shirt wie ihre Enkel. Wir kommunizieren auf unseren Smartphones mit albernen emoticons, wenn wir unseren Gefühlen Ausdruck verleihen. Retardierter kann Sprache kaum sein.

Die spielerische Entfaltung?

Mittdreißiger haben offenbar nichts dagegen, dass man sie nach der Marke eines berühmten nussigen Schokocreme-Brotaufstrichs Nutella-Generation nennt. Schlumpf-Figuren, Schuco-Autos und Märklin-Eisenbahnen aus früheren Tagen erzielen wie alte Steiff-Tiere Höchstpreise auf Auktionen. Ist es nur Nostalgie, oder hat der Philosoph Herbert Marcuse mit seinem 1967 erschienen Buch "der eindimensionale Mensch" doch den Nerv getroffen, als er die Vorherrschaft der "instrumentellen Vernunft" kritisierte, die in den Industriegesellschaften keinen Platz mehr "für Ganzheit, Persönlichkeitsentfaltung und autonome Selbstwerdung lasse"? Inzwischen sind mehr als 40 Jahre vergangen. Und von autonomer Selbstwerdung spricht niemand mehr. An ihre Stelle trat die spielerische Entfaltung.

Dabei stand am Anfang dieser Infantilisierungsbewegung ein Protest. Zumindest gegen die Kleiderordnung und den damit verbundenen Geist. Der Matrosenanzug und die Schürzenkleider waren in der Kindheit um 1900 das Sinnbild einer autoritären Erziehung. Zucht und Ordnung waren die pädagogischen Ideale - wer nicht spurte, wurde mit körperlichen Züchtigungen wieder auf Spur gebracht.

Geradewegs in die Regression

In den folgenden beiden Weltkriegen wurde die junge Generation in Uniformen gesteckt und ihrer Jugend beraubt. In Abgrenzung zu dieser autoritären Zeit wurde in den antiautoritären späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren der Dresscode radikal umgeschrieben. Seitdem gilt: Durfte man zu Uropas Zeiten kaum Kind sein, möchte man heute offenbar nichts anderes, als nur noch Kind bleiben.

Was einst als ironisch-kindische Kritik der bürgerlichen Kleiderordnung gedacht war, hat sich verselbstständigt und führte geradewegs in die Regression. Wir wünschten uns zurück auf eine frühere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung. Seitdem versuchen wir, der immer kälter und technologisch werdenden Welt mit immer neuen Verniedlichungsstrategien zu begegnen.

Diese Sehnsucht, wieder Kind sein zu dürfen

Der niederländische Kulturwissenschaftler Johan Huizinga stellt 1938 den beiden Kulturtypen Homo sapiens und Homo faber den Homo ludens entgegen. In seinem gleichnamigen Buch arbeitet er die elementare Kulturleistung heraus, die das Spielerische im Menschen hervorgebracht hat. Die ritualisierte Maskerade in der fünften Jahreszeit ermöglicht, einmal neben sich zu treten und sich in einen Zustand der Geborgenheit zurückzuversetzen, den man im Zeitalter der nackten Zahlenlogik als Erwachsener im Alltag nicht ausleben darf.

Die Soziologen warten schon seit geraumer Zeit mit immer neuen Begriffen auf, um diese Sehnsucht, wieder Kind sein zu dürfen, zu beschreiben. Eskapismus, Cocooning - Alltagsflucht und das Einspinnen in Zweierbeziehungen sind beides Symptome für eine einzige Rückzugsbewegung.

Peter Pan ist der Held unserer Tage, der Junge, der im Kinderbuch nicht erwachsen werden wollte. Auf der Insel Neverland mit seinen Spielkameraden errichtete er eine imaginäre Gegenwelt. Doch Vorsicht: Das Stoffkrokodil dort erwies sich als echt bissig.


Quelle:
KNA