Reportage: Essener Notschlafstelle nimmt obdachlose Jugendliche und junge Erwachsene auf

Ein warmes Bett für "Straßenkinder"

Es gibt wenig, was Maria (Name von der Redaktion geändert) in ihrem kurzen Leben noch nicht durchgemacht hat. Sie riss von zu Hause aus, versuchte mehrfach, sich das Leben zu nehmen und erlebte sexuelle Gewalt. Doch nun sei sie glücklich, sagt die 18-Jährige und nimmt einen großen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Zum neuen Glück verholfen haben ihr unter anderem die Mitarbeiterinnen der Essener Notschlafstelle für Jugendliche. Seit 2001 öffnen sie jede Nacht ihre Türen und Ohren für bis zu acht obdachlose Jugendliche.

Autor/in:
Tonia Haag
 (DR)

Insgesamt leben in Nordrhein-Westfalen rund 2000 "Straßenkinder", schätzt Uwe Britten vom Kinderhilfswerk Terre des Hommes. Ihnen gegenüber stünden gerade einmal rund 20 Notschlafunterkünfte für Jugendliche und junge Erwachsene, von denen kaum eine Einrichtung mehr als zehn Betten habe.

Für die sechs Betten und zwei Notschlafplätze in Essen gibt es daher fast jede Nacht genügend Bewerber. "Das geht sogar soweit, dass wir Jugendliche abweisen müssen, weil wir einfach nicht mehr Platz haben", sagt die Leiterin der Einrichtung, Manuela Grötschel. Mitarbeiterinnen bemühten sich jedoch darum, die Jugendlichen in Einrichtungen anderer Städte zu vermitteln.

Allein Max (Name von der Redaktion geändert) hat es in der vergangenen Woche sechsmal erwischt. Weil er mit 21 Jahren der Älteste unter den jungen Leuten ist, wurde er als erster wieder auf die Straße geschickt. "Die Jüngeren haben bei uns Vorrang", sagt Grötschel zur Begründung.

Wer in die Notschlafstelle kommt, erhält nicht nur ein warmes Bett für die Nacht. "Abends kochen wir - möglichst vitaminreich und gesund", erzählt Grötschel. Morgens gibt es außerdem ein üppiges Frühstücksangebot. Für die "Straßenkinder" ist das eine Seltenheit. Und auch Schuhe, Kleidung und eine Wasch- und Trockenmaschine stehen den Jugendlichen im "Raum_58" zur Verfügung.

Die meisten ihrer Schützlinge hätten bereits lange "Straßenkarrieren" hinter sich, wenn sie in den "Raum_58" kommen, erzählt Grötschel. Viele von ihnen nähmen Drogen aller Art, bekämen früh Kinder oder landeten im Gefängnis. So wie Max. Rund drei Wochen ist es her, dass er das Gefängnis nach seinem zweiten Aufenthalt wieder verlassen durfte. Für Grötschel nichts Ungewöhnliches. "Das Straßenleben bringt Geldmangel mit sich", sagt die Diplom-Pädagogin lapidar.

In der Notschlafstelle ist Max bereits ein alter Bekannter. Vor drei Jahren tauchte er dort zum ersten Mal auf. Zuvor hatte er bereits Heime, Knast, lange Nächte auf der Straße und einen gescheiterten Neuanfang bei seiner Mutter hinter sich. "Das ist typisch", sagt Grötschel. Die meisten Jugendlichen, die in den "Raum_58" kämen, hätten eine ähnliche Laufbahn hinter sich, seien bereits in verschiedenen Jugendhilfeprogrammen gewesen und irgendwann auf der Straße gelandet.

Einen wirklichen Neuanfang zu schaffen, sei schwierig, gibt Grötschel zu. "Bei etwa jedem Fünften gelingt es uns, ihn beispielsweise in eine Wohnung oder eine Therapie zu vermitteln." Doch selbst bei diesen 20 Prozent gebe es keine Erfolgsgarantie. "Es ist sehr schwierig, Struktur in das Leben der Jugendlichen zu bringen. Viele von ihnen sind einen geregelten Tagesablauf einfach nicht gewohnt." Ergebnis seien oft chronischer Geldmangel, vermüllte Wohnungen und der anschließende Rauswurf vom Vermieter.

Doch Maria will es schaffen. Gemeinsam mit ihrem Freund Max will sie den Neuanfang wagen - in Spanien, mit einer geregelten Arbeit und eigener Wohnung. "Nur die Probezeit in Deutschland müssen wir vorher noch überstehen", sagt sie und springt nach einem kurzen Blick auf die Uhr von ihrem Stuhl auf. Es ist bereits fast neun Uhr am Morgen - die Zeit, zu der die Jugendlichen die Schlafstelle verlassen müssen. Doch am Abend um neun Uhr will Maria noch einmal wiederkommen, bevor sie Essen endgültig verlassen wird.