Religiöse Landkarte Deutschlands hat sich stark verändert

Wachsende Vielfalt stellt hohe Anforderungen an Toleranz

Deutschland ist religiös immer pluraler geworden. Doch ein Drittel der Menschen empfindet das als Bedrohung. Eine Studie zeigt Wege, um eine Polarisierung zu verhindern.

Autor/in:
Christoph Arens
Interreligiöse Symbole / © godongphoto (shutterstock)

Die religiöse Landkarte in Deutschland hat sich dramatisch verändert. Religion ist nicht auf dem Rückzug. Aber die christlichen Kirchen haben deutlich an Einfluss verloren, die Zahl der Bundesbürger, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, ist stark gewachsen. Zugleich verlagert sich Religion ins Private. Das sind die Ergebnisse des Religionsmonitors 2023 der Bertelsmann Stiftung, der am Mittwoch in Gütersloh veröffentlicht wurde. Die wachsende religiöse Vielfalt und Unübersichtlichkeit birgt dabei Chancen und auch Risiken für die Gesellschaft.

Religiöse Vielfalt und Unübersichtlichkeit

Zählten sich 1950 noch fast 96 Prozent der Bundesbürger zu den beiden großen christlichen Kirchen, sind mittlerweile nur noch rund 50 Prozent katholisch oder evangelisch. Andersgläubige und Nichtreligiöse machten hingegen 1950 lediglich 4,4 Prozent aus. Heute ordnen sich allein über ein Drittel der Deutschen (35,9 Prozent) keiner Religionsgemeinschaft zu. Sinnsuche und religiöse Funktionen wandern in Lebensbereiche wie Meditation, Yoga oder Esoterik ab.

Die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft ist der Islam mit – laut Religionsmonitor – 8,5 Prozent. Auch er ist divers: Es gibt Sunniten, Schiiten und Aleviten. Darüber hinaus bekennen sich Bundesbürger zum Hinduismus (1,3 Prozent), Buddhismus (0,9 Prozent) und Judentum (0,3 Prozent).

Moderate Religiosität

Laut Studie betrachten viele ihren Glauben heute als etwas Individuelles. Ein Großteil der Gläubigen nimmt laut Studie gar nicht (25 Prozent) oder nur unregelmäßig (57 Prozent) an Gemeinderitualen teil. "Die meisten Menschen hierzulande leben eine moderate Religiosität", heißt es.

"Doch Religion ist nach wie vor eine ambivalente soziale Kraft", betonen die Autoren zugleich. "Ein gelingendes Zusammenleben von Menschen verschiedener Glaubensrichtungen – und auch von Menschen ohne Religionszugehörigkeit – stellt daher eine besondere und dauerhafte Herausforderung liberaler Demokratien dar."

Wissen über andere Religionen nimmt ab

Besorgt analysieren die Studienautoren, dass das Wissen über Religion und die Offenheit gegenüber anderen Religionen abgenommen haben. Es gebe eine zunehmende Kluft zwischen dem Drittel der Bevölkerung, das keinen Bezug zur Religion hat, und einem kleineren Kreis von Menschen, deren Leben stark religiös geprägt ist. Dazu zählen insbesondere Personen, die evangelikal-freikirchlich/pfingstkirchlich oder sunnitischen Glaubens sind.

Grundsätzlich belegt die Studie ein weiterhin hohes Maß an religiöser Toleranz in Deutschland – das aber im Vergleich zum Religionsmonitor 2013 abgenommen hat. So bejahen 93 Prozent die generelle Aussage, jeder und jede solle die Freiheit haben, die Religion zu wechseln oder abzulegen. 80 Prozent sind der Meinung, man solle gegenüber anderen Religionen offen sein – 2013 waren dies noch 89 Prozent.

Zunehmende Polarisierung

Eine zunehmende Polarisierung zeigt sich bei der Frage, wie die religiöse Vielfalt bewertet wird: Jeweils ein Drittel der Befragten sagen, dass sie die Pluralisierung des Religiösen als Bedrohung, als Bereicherung oder ambivalent empfinden. Wichtig für eine positive Haltung zur religiösen Vielfalt sei das zwischenmenschliche Vertrauen, sagt Yasemin El-Menouar, Religionsexpertin der Bertelsmann Stiftung. Aufgeheizte und emotional aufgeladene Debatten vor allem in sozialen Medien seien deshalb kontraproduktiv.

Sehr positiv wirken persönliche Kontakte zwischen Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften in der Freizeit – etwa in Sportvereinen oder Begegnungsstätten. Insgesamt haben 41 Prozent der Befragten häufig, 49 Prozent selten und 11 Prozent nie Freizeitkontakte zu Personen anderer Glaubenszugehörigkeit. Dabei gibt es eine ungleiche Verteilung: Rund 80 Prozent der Musliminnen und Muslime haben häufig Freizeitkontakt zu Personen anderen Glaubens. Unter den Christinnen und Christen sind es knapp 37 Prozent. In der Gruppe derer, die keine interreligiösen Kontaktehaben, zeigen lediglich 19 Prozent eine positive Sicht auf religiöse Vielfalt. Unter denen, die häufig interreligiösen Kontakt erleben, betrachten 40 Prozent die Pluralität als Bereicherung.

Interreligiosität stärkt Gesellschaft

"Unsere Studie zeigt, dass interreligiöse Begegnung Vertrauen und gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken kann", erklärt El-Menouar. Dies sei jedoch kein einfacher Automatismus. Die persönliche Begegnung baue nur dann Vorbehalte ab, wenn sie auf Augenhöhe stattfinde, eine wirkliche Zusammenarbeit einschließe und durch Institutionen unterstützt werde.

"Damit sich die positiven Impulse durchsetzen, benötigen wir fundiertes Wissen über das religiöse Leben und Begegnungen auf Augenhöhe", sagt El-Menouar. Es sei die Aufgabe von Religionspolitik und Glaubensgruppen, hierfür Plattformen zu schaffen. "Sonst droht Pluralität in Polarisierung umzuschlagen."

Quelle:
KNA