Philosoph Jürgen Habermas wird 90 Jahre alt

"Religiös unmusikalisch"

Er hat mittlerweile ein hohes Alter erreicht, und noch immer bringt sich Jürgen Habermas in aktuelle Debatten ein. An diesem Dienstag wird einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart stolze 90 Jahre alt.

Autor/in:
Angelika Prauß und Leticia Witte
Jürgen Habermas (m.) / © Arne Immanuel Bänsch (dpa)
Jürgen Habermas (m.) / © Arne Immanuel Bänsch ( dpa )

Er zählt zu den meist beachteten und prägendsten deutschen Philosophen der Gegenwart. Gentechnik, Leitkultur, ziviler Ungehorsam, Erinnerung an Auschwitz: In kaum einer großen Debatte fehlt die Stimme von Jürgen Habermas. Jetzt wird der große Philosoph 90 Jahre alt.

Geboren wurde Habermas am 18. Juni 1929 in Düsseldorf. Er studierte Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. 1956 lud ihn der aus dem Exil zurückgekehrte Theodor W. Adorno zur Mitarbeit am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main ein. Adorno bahnte dem jüngeren Habermas den Weg zur linken kritischen Gesellschaftstheorie der "Frankfurter Schule", deren Programm er weiterentwickelte.

"Theorie des kommunikativen Handelns"

Die Vertreter der "Frankfurter Schule" setzen für ihre Kritik an der Gesellschaft am Denken unter anderen von Karl Marx an. Habermas wollte Fundamente für eine der Demokratie verpflichteten Gesellschaftstheorie legen. Er verband die philosophische Analyse mit den modernen Sozialwissenschaften. Gewalt könne zur Lösung von Konflikten durch die vernünftige Einigung der Bürger abgelöst werden.

Das Hauptwerk von Habermas ist die "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981). Seine Schriften sind nicht nur grundlegend für Philosophie und Soziologie, sondern beeinflussen zum Beispiel auch Politische- und Rechtstheorie sowie die Sprachwissenschaft.

Seine akademische Karriere begann Habermas in den 1960er und 70er Jahren als Professor erst in Heidelberg und dann in Frankfurt. Dort wurde er Nachfolger von Max Horkheimer. Während der Studentenbewegung der 60er Jahre rückte Habermas ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit.

Historiker-Streit von 1986

Im Historiker-Streit von 1986 kritisierte er Ernst Noltes Versuch, die nationalsozialistische Massenvernichtung mit dem Stalinismus zu vergleichen. In einer Linie mit der Neuen Politischen Theologie um den Münsteraner Fundamentaltheologen Johann Baptist Metz, mit dem Habermas befreundet ist, sah er die Gefahr, die Einzigartigkeit der Judenvernichtung relativieren zu wollen.

Obwohl sich Habermas, Vater von drei Kindern, einmal "religiös unmusikalisch" nannte, setzt er sich seit Jahrzehnten mit dem Verhältnis von Religion und Philosophie auseinander. Er spricht den Religionen "unaufgebbare semantische Gehalte" zu, die sich einer philosophischen Aneignung entzögen. Habermas geht von einem Fortbestehen der Religion in der säkularisierten Umgebung aus.

Im Januar 2004 kam es in München zu einem ungewöhnlichen Streitgespräch über die "vorpolitischen Grundlagen" der Demokratie zwischen Habermas und Kurienkardinal Joseph Ratzinger, der ein Jahr später Papst wurde. Trotz vieler Differenzen zeigten sich in dem damaligen Gespräch auch Nähen.

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Bei seiner viel beachteten Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001 - kurz nach den Anschlägen vom 11. September in den USA - brachte er Freiheit und Gerechtigkeit als die Grundlagen in Erinnerung, an die jede staatliche Macht gebunden sei.

Was aufhorchen ließ, war die Bedeutung, die er Glaubensvorstellungen zuwies. Was die Religion dazu beitrage, um ethische Fundamente zu verankern, solle man ernst nehmen.

Zur Verleihung des Friedenspreises würdigte ihn die Jury als den prägendsten deutschen Philosophen der Gegenwart. Er habe vor allem in den 70er Jahren "innovative Diskussionen" in den Sozialwissenschaften gefördert und mit der Gesellschaftstheorie "die Tradition kritischer Aufklärung fortgeführt".

Ehrendoktorwürden im In- und Ausland

Als im Frühjahr 2017 eine erneute Leitkulturdebatte aufkam, stellte Habermas fest: "Eine liberale Auslegung des Grundgesetzes ist mit der Propagierung einer deutschen Leitkultur unvereinbar." Und: "Keine Muslima darf dazu genötigt werden, beispielsweise Herrn de Maiziere die Hand zu geben." Die Gesellschaft müsse aber von eingewanderten Staatsbürgern erwarten, "dass sie sich in die politische Kultur einleben - auch wenn sich das rechtlich nicht erzwingen lässt".

Habermas bekam Ehrendoktorwürden im In- und Ausland und zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2018 den Großen Deutsch-Französischen Medienpreis für sein Lebenswerk. In seiner Rede rief er zu mehr Solidarität in Europa auf, die auf gegenseitigem Vertrauen basiere und nicht von vornerein vor allem ökonomisch konditioniert sei.


Frank-Walter Steinmeier / © Soeren Stache (dpa)
Frank-Walter Steinmeier / © Soeren Stache ( dpa )
Quelle:
KNA