Publizist Püttmann kritisiert Kirche und Politik im Richterstreit

"Politisch-handwerklicher Murks"

Über die verschobene Richterwahl im Bundestag wird immer noch diskutiert. Publizist Andreas Püttmann wirft in einem Gastbeitrag Bischöfen und Abgeordneten vor, zu spät auf die Haltung der Kandidatin zur Abtreibung geschaut zu haben.

Autor/in:
Andreas Püttmann
Richter beim Bundesverfassungsgericht / © Uli Deck (dpa)
Richter beim Bundesverfassungsgericht / © Uli Deck ( dpa )

Bei einer Fraktionsklausur beriet die AfD vor acht Tagen über ihre Strategie für eine künftige Regierungsverantwortung. Dabei ging es laut Charts, die von "Politico" ins Netz gestellt wurden, auch um die Ansprache von Wählergruppen, bei denen die Partei bislang weniger punkten konnte: Frauen, Senioren, Großstädter, Deutsche mit Migrationshintergrund und "konfessionell gebundene Christen". Bei diesen schneidet die in Alice Weidels Gedankenwelt "einzige christliche Partei" regelmäßig schlecht ab, besonders bei katholischen Kirchgängern. 

Dr. Andreas Püttmann (privat)
Dr. Andreas Püttmann / ( privat )

Eine zwar kleiner werdende Gruppe, aber relativ gut vernetzt, sozial engagiert, politisch traditionell der CDU/CSU zugeneigt und mit besonderer Verbindung zu deren ideellem "Markenkern". Solche Minderheiten pflegt man besser auch unabhängig von der Masse, die sie auf die Waage bringen, wenn man als Partei seine Seele nicht verlieren will. Dies gilt erst recht in einer Zeit eigener Auszehrung durch Radikalisierung bislang integrationsfähiger Wählergruppen zu Extremisten hin.

Unions-Spitzenpolitiker, die in diesem Bewusstsein in Verhandlungen mit der SPD und den Grünen zur Wahl neuer Verfassungsrichter aus der demokratischen Mitte gegangen wären, hätten sich den Vorschlag Frauke Brosius-Gersdorf sicher nicht nur auf deren unzweifelhafte Qualifikation hin angeschaut und wie bei einer Ministerauswahl achselzuckend auf das "Ticket" verwiesen, das dem Koalitionspartner bei Personalien nun mal zuzugestehen sei. Vielmehr hätten sie, statt last minute mit einem zweifelhaften, rufschädigenden Plagiatsverdacht als vermeintlich rettendem Strohhalm um die Ecke zu kommen, beim christlichen Kernthema Lebensschutz frühzeitig gründlicher hingeschaut.

Die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf am 15. April 2024 in Berlin, während sie den Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin vorstellte. / © Britta Pedersen (dpa)
Die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf am 15. April 2024 in Berlin, während sie den Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin vorstellte. / © Britta Pedersen ( dpa )

Dabei stößt man auf Rechtsmeinungen, die sich nicht vereinbaren lassen mit der bisherigen Judikatur des höchsten deutschen Gerichts, die besagt: Das menschliche Leben stelle in der grundgesetzlichen Ordnung einen "Höchstwert" dar, ihm komme schon im Mutterleib der Menschenwürde-Schutz zu; Abbrüche der Schwangerschaft seien deshalb grundsätzlich verboten und als "Unrecht" einzustufen, sodass es eine grundsätzliche "Pflicht" der Frau gebe, "das Kind auszutragen". 

Wenn auch die (weit auslegbaren) Ausnahmen von der Strafbarkeit und die bloße Auflage einer Beratung seit 1995 praktisch eine weitgehende Freiheit zum Abbruch herbeiführten, so spiegelt dessen grundsätzliche Rechtswidrigkeit kulturell noch die seit der kirchlichen Frühgeschichte belegte Ablehnung der Abtreibung im Christentum (wie schon vorchristlich bei Hippokrates).

Menschenwürde abstufbar?

Entgegen der von rechten Hetzern verbreiteten Lügen, die Potsdamer Rechtswissenschaftlerin sei eine "linksradikale Aktivistin" und wolle die "Zerstückelung" ungeborener Kinder bis kurz vor der Geburt erlauben, bestreitet Brosius-Gersdorf nicht grundsätzlich den Schutzanspruch des ungeborenen Kindes aus dem Recht auf Leben. Sie relativiert ihn allerdings, indem sie in der Frühphase der Schwangerschaft von einem geringeren Schutzniveau als bei geborenen Menschen ausgeht und meint, das Lebensrecht habe hier hinter die Grundrechte der Schwangeren zurückzutreten. Es gebe sogar "gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt", ja die "Annahme, dass die Menschenwürde überall gilt, wo menschliches Leben existiert", sei "ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss"; "die Tötung eines Menschen ohne herabwürdigende Begleitumstände, die ihm seine Subjektqualität absprechen, verletzt Artikel 1 I GG nicht". 

Eine Mutter gibt einem Säugling die Flasche / © imageBROKER/Uwe Umstätter (epd)
Eine Mutter gibt einem Säugling die Flasche / © imageBROKER/Uwe Umstätter ( epd )

Es sei daher verfassungsrechtlich zulässig, "den Schwangerschaftsabbruch mit Einwilligung der Schwangeren in der Frühphase der Schwangerschaft (12. Woche p. c.) rechtmäßig statt wie bislang rechtswidrig zu stellen".

Das ist durchaus starker Tobak. Selbst die bei diesem Thema für katholische Verhältnisse liberale ZdK-Vorsitzende Irme Stetter-Karp, die 2022 scharfe Kritik auf sich zog für die Forderung nach einem "flächendeckenden Angebot" für Abtreibungen auch im ländlichen Raum, erklärt sich nun "sehr beunruhigt" über die Haltung der Verfassungsrichterin in spe zur Menschenwürde: "Ich würde sie aufgrund dieser Position nicht wählen können." 

Die ebenfalls des Ultrakonservatismus unverdächtige frühere SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, Präsidentin der Bundesvereinigung Lebenshilfe, merkte an, die Geltung der Menschenwürde bereits im Mutterleib sei auch für den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen wichtig. Die eugenische Indikation habe man daher "aus guten Gründen abgeschafft". Das Bundesverfassungsgericht betone bisher, "dass im Schwangerschaftskonflikt sowohl die Menschenwürde des Ungeborenen als auch die Würde der Frau zu berücksichtigen sind. Diese Rechtsprechung unterstütze ich".

Irme Stetter-Karp / © Dieter Mayr (KNA)
Irme Stetter-Karp / © Dieter Mayr ( KNA )

Die Ideen eines erst sukzessive mit dem Wachstum des Fötus bis zur Überlebensfähigkeit außerhalb des Körpers der Mutter vorrangig werdenden Lebensrechts sowie einer Abhängigkeit der Menschenwürdegarantie vom Aufenthaltsort und Grad der Entwicklung verschaffen keine klaren Kriterien geschweige denn Zäsuren dafür, ob ein Kind weiter leben darf oder nicht. Sie könnten zudem die Büchse der Pandora öffnen für Abwägungen auch beim Lebensschutz in anderen existenziellen Lagen von Schwäche, Abhängigkeit und Last für andere. 

Abgesehen von der medizinischen und kriminologischen Indikation krankt die Berufung auf einen Vorrang des Selbstbestimmungsrechts gegenüber dem Lebensrecht ferner daran, dass die Zeugung eines individuellen menschlichen Lebens kein unvermeidlicher Schicksalsschlag ist, sondern Folge eigenen Handelns, fast immer in freier Selbstbestimmung – und damit auch Verantwortung. Der Anspruch auf Reversibilität der Handlungsfolgen zu Lasten eines Dritten, und zwar in der denkbar radikalsten Form physischer Auslöschung, überzeugt mich ethisch nicht.

Gewissen erst kurzfristig entdeckt?

Es ist insofern gut nachvollziehbar, dass christlich-demokratische Abgeordnete sich in dieser Frage ihrem Gewissen mehr verpflichtet fühlen als der Partei- oder Koalitionsräson. Schwer nachvollziehbar hingegen ist, dass manche Politiker ihr Gewissen erst entdeckten, als eine Online-Kampagne der Rechten aus anderen Gründen, vor allem wegen Brosius-Gersdorfs Position zu einem AfD-Verbot, die breitere Öffentlichkeit erreicht hatte. Für derart wichtige Personalien sollten sich Parlamentarier – und übrigens auch Bischöfe! – eigentlich frühzeitig interessieren und nicht erst nachdem der Richterwahlausschuss des Bundestags die Personalvorschläge mit Zweidrittelmehrheit beschlossen hat.

Noch unverständlicher ist, dass erfahrene Unions-Politiker der SPD signalisierten, mit der Personalie Brosius-Gersdorf werde es "kein Problem" geben. So viel Realitätsverlust und Fahrlässigkeit bei jenen, die sich über Kanzler Scholz als "Klempner der Macht" mokierten, müsste unter normalen Umständen demokratischer politischer Kultur zum Rücktritt führen - mindestens des Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn, dessen Skandalkonto ohnehin schon weit überzogen ist. Aber auch der Parlamentarische Geschäftsführer Steffen Bilger, der im Streit um die Migrationsinitiative im Januar kirchliche Kritik mit einem herablassenden "Überrascht nicht, interessiert nicht" auf X abtropfen ließ, sollte sich künftig doch besser rechtzeitig interessieren für ethische Implikationen des "C" und einschlägige kirchliche Lehren. Hochmut kommt vor dem Fall.

Plenarsaal des Deutschen Bundestags / © shirmanov aleksey (shutterstock)
Plenarsaal des Deutschen Bundestags / © shirmanov aleksey ( shutterstock )

Der Schaden ist nun noch größer als im Januar. Denn erstmals kann die AfD sich aufspielen als im Vergleich zur Union striktere Streiterin für den Schutz vorgeburtlichen Lebens - an der Seite ihrer Gegnerin katholische Kirche sowie von konservativen Teilen des Protestantismus und übrigens auch 38 Prozent der Mitglieder anderer Religionszugehörigkeit sowie 14 Prozent der Konfessionslosen, die einem Recht, "sich frei bis zur 12. Woche einer Schwangerschaft für einen Abbruch entscheiden zu können" nicht zustimmten (Civey 2024). Dass das Lebensschutz-Pathos der Rechtsextremen doppelbödig ist, zeigt neben ihrer Vorliebe für ethnisch deutsche Kinder auch ihre Haltung zum Lebensschutz in der Corona-Pandemie oder gegenüber Flüchtlingen an den Grenzen, wo man gerne mal den Schusswaffengebrauch ins Spiel bringt – übrigens auch Beatrix von Storch, die den Kanzler in der Parlaments-Fragestunde am Mittwoch in die Falle lockte, sein gutes Gewissen bei der geplanten Richterwahl knapp mit "Ja" zu bekunden, ohne zugleich die Haltung der Union in der Sache zu bekräftigen.

Was bleibt, ist eine Machtdemonstration der Kampagnenfähigkeit der politischen Rechten, begünstigt durch untaugliche "Klempner der Macht" im Team Merz, das gern schneidig sein Macher-Image pflegt, aber nach der kontraproduktiven Migrations-Abstimmung im Januar und der zunächst verpatzten Kanzlerwahl im Mai nun schon zum dritten Mal ins Schwimmen gerät und den Koalitionspartner öffentlich brüskierte statt ihn im Vorfeld zu einem neuen Personalvorschlag zu bewegen, vielleicht durch ein Entgegenkommen an anderer Stelle.

Politisch-handwerklicher Murks 

Verquickt ist der politisch-handwerkliche Murks bei der Union mit einer Unsicherheit über die eigenen ideellen Fundamente, bei manchen auch bewusste Umdeutung, wie sie schon im Entstehungsprozess des neuen Grundsatzprogramms deutlich wurden. Die bisher zwei ausdrücklichen Bezüge auf die "christliche Sozialethik" wurden getilgt, Dass Andreas Rödder, Merz’ Chefdenker für das christlich ausgedünnte Programm der nun per Alternativtidentität "bürgerlichen" Partei, es für angebracht hielt, die Öffentlichkeit nach dem Kirchenvotum im Migrationsstreit wissen zu lassen, er habe "wieder einmal darüber nachgedacht, aus der katholischen Kirche auszutreten", ist symptomatisch für das gestörte Verhältnis der neuen Konservativen zu den Kirchen.

"Die Zeit" kommentierte das Richterwahl-Desaster bei bereits sinkenden Umfragewerten für die Union mit dem Fazit, Merz habe seine Mannschaft "falsch aufgestellt und falsch eingestellt". Kein Händchen fürs Personal und mangelhafte geistige Führung durch einen Kanzler bar jeder Regierungserfahrung. Stattdessen kostspielige Schaufenster-Politik an den Grenzen, gebrochene Versprechen von der Verschuldung über den Taurus bis zur Stromsteuer, Jagd auf Regenbogen-Fahnen im Bundestag, veranlasst durch eine von der Würde ihres hohen Amtes überforderte Bundestagspräsidentin. 

 Julia Klöckne steht neben Friedrich Merz.  / © Michael Kappeler (dpa)
Julia Klöckne steht neben Friedrich Merz. / © Michael Kappeler ( dpa )

Klöckner tat sich ebenfalls mit Zeitgeist-synchronisierter Kirchenkritik hervor und fand den hämischen Post von "merzrevolution" zu einem ZDF-Interview: "Merz macht Dunja Hayali fertig" auf Instagram verbreitungswürdig (nach viel Kritik wieder gelöscht). Geht es auf diesem Niveau in Inhalt und Stil weiter mit der Bundes-CDU, dann wird Merz’ Regierung deutlich vor Ende der Legislaturperiode "fertig haben".

Information zum Autor: Dr. Andreas Püttmann ist Politologe und Publizist.

Quelle:
DR

Die domradio- und Medienstiftung

Unterstützen Sie lebendigen katholischen Journalismus!

Mit Ihrer Spende können wir christlichen Werten eine Stimme geben, damit sie auch in einer säkulareren Gesellschaft gehört werden können. Neben journalistischen Projekten fördern wir Gottesdienstübertragungen und bauen über unsere Kanäle eine christliche Community auf. Unterstützen Sie DOMRADIO.DE und helfen Sie uns, hochwertigen und lebendigen katholischen Journalismus für alle zugänglich zu machen!

Hier geht es zur Stiftung!