Bis vor Kurzem war Andrej Kordochkin leitender Pfarrer in der russisch-orthodoxen Kirchengemeinde der Heiligen Maria Magdalena in Madrid, einer Auslandsdiözese des Moskauer Patriarchats. Sein Pfarrhaus in der spanischen Hauptstadt haben er und seine Familie eingetauscht gegen eine kleine Wohnung am Niederrhein, unweit der holländischen Grenze.
"Natürlich ist es schmerzhaft, seine Kirche zu verlassen", gibt der 46-jährige Priester bereitwillig zu, "ich vermisse meine Gemeinde, die Menschen. Ich vermisse das Essen, vor allem den Fisch, den es frisch und günstig auf dem Markt gab. Aber die Sonne vermisse ich nicht. Ich bin ein nordischer Typ. Das Klima in Deutschland kommt mir entgegen", scherzt Kordochkin. Hinter seinem grauen Vollbart blitzt ein Lächeln.
Der Warnschuss: Drei Monate Dienstverbot
Was nach einem versöhnlichen Versuch klingt, den abrupten Umzug zu erklären, hat einen ernsten Hintergrund. Wegen kritischer Äußerungen zum Ukraine-Krieg in spanischen Medien und auf sozialen Netzwerken hatte die russisch-orthodoxe Kirche im Frühjahr 2023 ein dreimonatiges Dienstverbot gegen den Priester verhängt.
Ein Wendepunkt in Kordochkins Leben, der die Gemeinde über 20 Jahre lang mit aufgebaut hatte: "Ich wollte eigentlich nicht gehen, unsere Mitglieder nicht im Stich lassen. Ein Lehrer schmeißt ja auch nicht seine Arbeit hin, nur weil er mit der Bildungspolitik nicht zufrieden ist. Aber als das Dienstverbot kam, wurde mir langsam klar, dass ich etwas tun muss. Ich bin schließlich nicht alleine, ich habe eine Ehefrau und zwei Kinder".
Die Legitimierung des russischen Angriffskriegs erforschen
Die Möglichkeiten für dissidente Priester sind begrenzt. Nach Russland zurückzukehren war keine Option - dafür aber eine Anknüpfung an seine wissenschaftliche Karriere. Denn vor seinem Priesterdienst hatte Kordochkin in Oxford und London studiert und an der University of Durham in England im Fach Patristik promoviert. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) nahm ihn als einen von zehn ausländischen Stipendiaten ins Förderprogramm auf, mit der Bedingung nach Deutschland umzuziehen.
"Viele Stiftungen und Stipendiengeber haben überlegt, wie sie mit russischen Stipendiaten umgehen", erläutert Dr. Wolfram Langpape, Referent für Orthodoxie, allgemeine Ökumene und Stipendien bei der EKD. "Wir haben uns bewusst dafür entschieden, russischen Stipendiaten Forschungsaufenthalte zu ermöglichen, um die ökumenischen Kontakte zur orthodoxen Kirche aufrechtzuerhalten."
Bei seiner Habilitation betreut wird Andrej Kordochkin, den viele nur "Vater Andrej" nennen, von Jennifer Wasmuth. Sein Thema, die theologische Legitimierung des russischen Krieges, sei bislang in der Forschung wenig beachtet, sagt die Professorin am Lehrstuhl für Ökumenische Theologie mit Schwerpunkt auf orthodoxem Christentum an der Georg-August-Universität Göttingen: "Es gibt zwar eine Reihe von kleineren Publikationen über die aktuellen Entwicklungen, aber dass diese so gründlich erforscht seien, wie Vater Andrej es vor hat, ist nicht der Fall. Insofern füllt er damit eine Lücke". Besonders vorteilhaft sei, dass Kordochkin Zugriff auf Quellen hat, die westliche Forscher unter Umständen nicht haben oder nicht einmal kennen - auch wenn es zunächst erst darum ging, als Betroffener eine wissenschaftliche Distanz zum Thema aufzubauen.
Kirche liefert ideologische Grundlage für den Krieg
Bei seinem Forschungsprojekt geht es um die Analyse von Aussagen des russisch-orthodoxen Oberhaupts Kyrill, Predigten verschiedener Hierarchen und von religiösen Narrativen, die in der Gesellschaft weite Verbreitung gefunden haben. "Viele meinen, man könne den Krieg nur militärisch beenden. Ich glaube, man kann nicht beenden, was man nicht versteht. Man muss die Motivation und die Ideologie der Menschen begreifen, die in diesen Krieg involviert sind."
Die Ideologie werde von der russischen Kirche maßgeblich genährt, meint Kordochkin, und nennt ein Beispiel: Dieser Krieg sei ein Kampf mit dem Anti-Christen: Gut gegen Böse. Es gebe sogar die Auslegung, dass Heilige mitkämpfen würden, und Soldaten, die im Einsatz sterben – selbst wenn sie für ihren Kriegsdienst aus dem Gefängnis rekrutiert worden sind – durch den Tod für ihr Vaterland zu Märtyrern werden.
Wechsel zum Ökumenischen Patriarchat
Priester Andrej Kordochkin, der sich trotz seines Dienstes in Madrid immer als Teil der russischen Kirche gesehen hat, ist enttäuscht: Die Kirche wurde selbst in der Sowjetzeit unterdrückt. Nun unterdrücke sie andere. Man habe aus der Geschichte nichts gelernt.
Um weiterhin Priester zu bleiben, ist Kordochkin zum ökumenischen Patriarchat übergetreten. Messen feiert er nun alle zwei Wochen in einer griechisch-orthodoxen Gemeinde in den Niederlanden. Möglich ist ein solcher Wechsel aufgrund des sogenannten Ehrenprimats. Dieses besagt, dass das ökumenische Patriarchat mit Sitz in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, eine Sonderstellung unter den orthodoxen Kirchen hat und darüber entscheiden dürfe, wo Priester austreten und angenommen werden. Vom Moskauer Patriarchat wird dieses Recht allerdings seit Jahrzehnten massiv bestritten.
Trotzdem gibt es mehrere russisch-orthodoxe Priester, die bereits Gebrauch von dieser Möglichkeit gemacht haben und jetzt im Ausland in einer griechisch-orthodoxen Gemeinde dienen.
Anderen Priestern Trost spenden
Auch in Deutschland will Andrej Kordochkin nicht schweigen. Im Sommer leitete er einen Gedenk-Gottesdienst in Berlin für den verstorbenen Kremlkritiker Alexei Nawalny. Er nahm an einer großen Antikriegsdemo teil, zu der dessen Witwe Julia Nawalnaja im November aufgerufen hatte. Außerdem hat der 46-Jährige eine Initiative für dissidente Priester gegründet: "Mir vsem", "Peace unto all" oder auf Deutsch "Frieden für alle". Auf der Internetseite kann für die Kirchenmitarbeiter gespendet werden.
Wie viele Priester in Russland den Krieg ablehnen – dazu gibt es keine verlässlichen Zahlen. Es dürften aber nicht viele sein. Doch es zähle jeder Einzelne, betont Kordochkin: "Wenn man sich die deutsche Geschichte anschaut, war der Widerstand der Kirche im Nazi-Reich auch nur eine Minderheit. Heute ist das die Mainstream-Meinung. Wir wollen genau diese Minderheit sein. Wir wollen eine Sprache finden für das, was passiert. Eben weil es damals eine Minderheit gab, die sich für Freiheit eingesetzt hat, konnte sich die Kirche in Deutschland, die sich in den 30ern gänzlich selbst diskreditiert hatte, ihre Glaubwürdigkeit nach dem Krieg zurückgewinnen."
Die Initiative "Mir Vsem“ fungiert aber auch als Austausch-Netzwerk. Auf dem Telegram-Kanal können die Priester ihre Erfahrungen teilen und einander Mut zusprechen. Besonders Priester in ländlichen Regionen haben es schwer. Der Kanal hat inzwischen knapp 900 Abonnenten. "Es geht uns darum zu zeigen, dass es Priester gibt, die verfolgt werden", sagt Andrej Kordochkin, "die russische Kirche lässt sich nicht über einen Kamm scheren. Nicht alle stehen hinter Putin und dem Krieg. Wir wollten ein Zeichen der Solidarität setzen."