Betreute Menschen mit Behinderung und die Europawahl

"Praktische Umsetzung ist nicht einfach"

Das Bundesverfassungsgericht hat betreuten Menschen mit Behinderung die Tür zur Wahl geöffnet. Der Beschluss sollte ab Juli gelten. Jetzt wurde aber schon grünes Licht zur Europawahl Ende Mai gegeben. Birgt die Kurzfristigkeit Probleme?

Gericht entscheidet zugunsten betreuter Behinderter / © Britta Pedersen (dpa)
Gericht entscheidet zugunsten betreuter Behinderter / © Britta Pedersen ( dpa )

DOMRADIO.DE: 80.000 Menschen dürfen jetzt also recht kurzfristig doch noch an der Europawahl in zwei Wochen teilnehmen. Wie läuft das ganz praktisch mit den Wahlunterlagen?

Thorsten Hinz (Geschäftsführer des Bundesfachverbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V.​): Zunächst haben wir uns sehr gefreut, dass das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung im Hinblick auf die Europawahlen getroffen hat. Wir haben gemeinsam mit der Bundesvereinigung "Lebenshilfe" seit zehn Jahren für das Wahlrecht der Menschen gekämpft – für die Menschen, die unter voller Betreuung stehen, aber auch für die Menschen, die in der Forensik untergebracht sind.

Wir sind sehr glücklich über die Entscheidung und die Wegweisung. Die praktische Umsetzung ist nicht einfach – zumal in dieser Kurzfristigkeit. Aber wir hören aus den Einrichtungen und Diensten, dass unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen alles dafür tun, dass die Menschen ihr Wahlrecht ausüben können.

DOMRADIO.DE: Wo sind denn aktuell noch die Schwierigkeiten?

Hinz: Die Schwierigkeiten liegen vor allen Dingen auf kommunaler Ebene. Manche Wahlbehörden haben die Entscheidung nicht mitbekommen oder wissen nicht recht, wie sie damit umgehen sollen. Wenn jetzt seitens der rechtlichen Betreuer und Betreuerinnen oder der unmittelbar zuständigen Angehörigen eine Wahleintragung beantragt wird, führt das zu ganz praktischen Problemen.

Es wird zum Beispiel gesagt, das Formular passe nicht, oder andere Dinge sind nicht so weit. Wir helfen, indem wir bekräftigen, zur Not auch Rechtsanwälte einzuschalten, die mit der Wahlbehörde Kontakt aufnehmen.

DOMRADIO.DE: Wie sind die Reaktionen der Betroffenen, gehen sie mit Freude in diese Wahl? Was stellen Sie da fest?

Hinz: In der ganzen Auseinandersetzung mit dem Prozess hat sich eine hohe Sensibilität in unseren Einrichtungen und Diensten aufgebaut. Ich würde sogar sagen, dass Menschen mit Behinderungen stärker sensibilisiert sind, als vielleicht die Allgemeinbevölkerung. Bei den politisch Interessierten ist die Begeisterung sehr groß, ihr Wahlrecht ausüben zu können. Wir müssen uns nichts vormachen, es ist die gleiche Situation wie in unserer Gesellschaft, es gibt natürlich durchaus auch politisch Desinteressierte unter den betreuten Menschen. Eine Politikverdrossenheit ist auch dort vorhanden.

DOMRADIO.DE: Wie sieht eine inhaltliche Unterstützung aus? Wie bereitet man beispielsweise die Menschen mit Behinderungen auf die Parteien vor?

Hinz: Wir freuen uns, dass gerade die größeren Parteien ihre Wahlunterlagen und ihr Programm auch in leichter Sprache veröffentlicht haben, um Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen den Zugang zu ihrer Politik zu gewährleisten. Im Bereich der Sinnesbehinderung gibt es sehr viele positive Dinge: auf der Webseite der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gibt es gute Hinweise und barrierefreie Zugänge zu relevanten Themen, die für eine Wahlentscheidung wichtig sind.

Dennoch gibt es immer noch große Barrieren. In der unmittelbaren Auseinandersetzung erleben wir Politiker, die überfordert sind. In leichter Sprache zu kommunizieren und sich generell auf die Perspektiven von Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen einzulassen, ist schwierig für sie.

DOMRADIO.DE: Da ist also noch deutlicher Verbesserungsbedarf der Parteien und Politiker vorhanden?

Hinz: Absolut. Ich glaube die Politiker müssen erkennen, dass Menschen mit Behinderung wichtig sind. Es sind europaweit 80 Millionen Menschen, die Interesse an der Politik haben, entsprechend müssen auch Politiker ihre Zugänge etwas verändern, damit diese Menschen mit ihren Themen erreicht werden können.

DOMRADIO.DE: Welche Entscheidungen stehen generell bald in der EU an, die vor allem Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen betreffen?

Hinz: Die Europäische Kommission wird 2020 ihre neue zehnjährige Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen aufsetzen. Da ist jetzt ein Beteiligungsverfahren möglich. Wir als Caritas fordern, dass vor allen Dingen die Diskriminierungen, die europaweit noch sehr stark für Menschen mit Behinderungen gelten, aufgehoben werden. Wir hoffen auch, dass es ein wichtiges, strategisches Programm wird.

Generell wünschen wir uns, dass die EU eine Antidiskriminierung-Richtlinie verabschiedet, in der der Diskriminierungschutz für Menschen mit Behinderung enthalten ist. Dem verweigert sich übrigens die Bundesregierung bisher. 

Das Interview führte Carsten Döpp.


Dr. Thorsten Hinz, Geschäftsführer des Bundesfachverbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. / © Privat (Caritas)
Dr. Thorsten Hinz, Geschäftsführer des Bundesfachverbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. / © Privat ( Caritas )
Quelle:
DR