Präsident des Ausschusses der Regionen zur Lage in Europa

"Soziales Defizit ist ein Geburtsfehler Europas"

Durch den Ausschuss der Regionen spielen auch Regionen, Städte und Kommunen der EU in Brüssel eine Rolle. Im Interview spricht der Vorsitzende Karl-Heinz Lambertz über das "soziale Defizit" in Europa und das Erstarken populistischer Parteien.

 (DR)

Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Zu Beginn seiner Amtszeit hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gesagt, er wolle Europa vor allem sozialer machen. Hat er sein Versprechen erfüllt?

Karl-Heinz Lambertz (Präsident des Ausschusses der Regionen der EU): Wir sind noch weit entfernt von diesem Ziel. Ein soziales Defizit haben wir nicht erst seit der Krise, sondern es ist ein Geburtsfehler Europas. Juncker veranstaltete 1997 unter der luxemburgischen Ratspräsidentschaft den ersten Sozialgipfel. Danach sagten alle, den müsse es alle zwei bis drei Jahre geben. Es dauerte über 20 Jahre bis zum nächsten Sozialgipfel in Göteborg 2017, der zweifellos ein Fortschritt war. Aber das Ergebnis des Gipfels bleibt ein Dokument mit Absichtserklärungen, deren Umsetzung in erster Linie vom Wohlwollen der Mitgliedstaaten abhängt. Da besteht in Europa eine Schieflage.

KNA: Welche Bedeutung hat das Thema Migration für Europa?

Lambertz: Das Migrationsthema hat die gesamten Koordinaten der europäischen Politik verändert. Vor zwei Jahren hätte sich das noch keiner vorstellen können. Es ist ein wichtiges Thema für Europa, sowohl aufgrund der Demografie wie auch der Wertvorstellungen. Beim Thema Zuwanderung hat sich die Unfähigkeit Europas bewiesen, Probleme zu lösen. Außerdem zeigte sich in den vergangenen Jahren, dass die gemeinsamen Werte, von denen in Europa gerne geredet wird, viel weniger gemeinsam sind, als man sich das vielleicht erhofft hat.

KNA: Sehen Sie da auch eine Verantwortung der Kirchen?

Lambertz: Die Kirchen haben dabei natürlich eine Bedeutung. Vieles von dem bewundernswerten zivilgesellschaftlichen Engagement hat mit der religiösen Überzeugung der Menschen zu tun. Aber es reicht natürlich nicht aus, als Ministerpräsident Kreuze aufzuhängen, um eine wirklich christliche Asylpolitik zu betreiben. Das ist nicht automatisch gegeben.

KNA: Bundesinnenminister Horst Seehofer möchte in anderen Ländern registrierte Asylbewerber an der Grenze abweisen, und Italien lässt Rettungsboote mit Migranten nicht mehr anlegen. Was passiert gerade in Europa?

Lambertz: Die Parameter der Politik haben sich geändert. Es wird zunehmend von populistischen Parteien, die europaskeptisch sind und ausländerfeindliche Positionen einnehmen, übernommen nach dem Modell: Die ganze Politik ist schlecht. Diese Politiker beanspruchen für sich, das Volk zu vertreten. Wer nicht ihrer Meinung ist, ist ein Volksfeind. Das gab es bereits in den 1930er Jahren. Die gesamte europäische Politik hat sich von der Migrationsdebatte und den realen Problemen losgelöst. Es gibt natürlich Probleme, aber die Zahl der ankommenden Migranten in Europa ist deutlich niedriger im Vergleich zum Vorjahr.

KNA: Welche Rolle spielen die Regionen bei der Migration?

Lambertz: Die Regionen, Landkreise und Kommunen nehmen eine besondere Position bei der Integration von Migranten ein. Es gibt bereits viele Beispiele, wo Zuwanderer vorbildlich integriert werden. Wir als Ausschuss der Regionen würden gerne ein Forum schaffen, wo Menschen aus den verschiedenen Regionen sich über Integration austauschen und auch zusammen Projekte starten können.

KNA: Wie sehen Sie die Zukunft des Ausschusses der Regionen?

Lambertz: Ich habe eine Vision für 2050. Dann könnte es eine zweite Kammer geben, die aus nationalen Abgeordneten und Vertretern aus den Regionen besteht. Der Ministerrat müsste dann durch eine echte europäische Regierung ersetzt werden. Es müsste einfach mehr Mitsprache und Beteiligung für die Bürger geben.

Das Interview führte Franziska Broich.


Quelle:
KNA