DOMRADIO.DE: Wie reagieren Sie auf den Rücktritt von Annette Kurschuss?
Dr. Thorsten Latzel (Präses der evangelischen Kirche im Rheinland): Der Rücktritt von Annette Kurschus ist eine sehr konsequente Entscheidung. Annette Kurschus hat sich immer dafür eingesetzt, dass sie eine konsequente Aufklärung bei dem Thema sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche will und hat gemerkt, dass die Diskussion im Augenblick stark auf ihre Person fokussiert war.
Sie hat einen klaren Schritt gemacht, der auch von den Betroffenen, den Sprecherinnen und Sprechern des Beteiligungsforums sehr begrüßt worden ist.
DOMRADIO.DE: Finden Sie diesen Rücktritt auch richtig?
Latzel: Es ist ein starkes Zeichen, dass Annette Kurschus von beiden Leitungsämtern als Ratsvorsitzende der EKD und als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen zurückzutreten ist.
Damit setzt sie ein klares Zeichen, dass für sie die Betroffenen an erster Stelle stehen, dass sie sich dafür einsetzt, dass der Aufarbeitung nichts im Weg stehen soll. Dabei geht es noch nicht einmal darum, ein Urteil über das zu fällen, was damals im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein passiert ist, sondern als Leitungsperson ein Zeichen von persönlicher Integrität und klarem Aufarbeitungswillen zu setzen.
DOMRADIO.DE: Annette Kurschus war über zehn Jahre lang Präses der Westfälischen Kirche und zwei Jahre Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Wie schauen Sie auf diese Amtszeit zurück?
Latzel: Annette Kurschus ist eine sehr kluge Theologin. Sie hat eine sehr berührende Predigtsprache, hat vielen Menschen Hoffnung gegeben, gerade in dieser Zeit von großen Krisen und Unruhen. Sie hat seelsorglich sehr stark gewirkt. Sie ist ein Mensch, der sehr gut zuhören kann. Das alles schätze ich an ihr. Sie ist eine sehr integre Person. Dies spiegelt sich in ihrem Schritt noch einmal wieder.
DOMRADIO.DE: Das Thema Aufklärung von sexueller Gewalt beschäftigt auch die evangelische Kirche schon länger. Was bedeutet dieser Rücktritt heute für den weiteren Umgang in der evangelischen Kirche mit sexueller Gewalt und der Aufklärung von entsprechenden Vorwürfen?
Latzel: Es ist ein langer und schwieriger Prozess. Wir setzen alles daran, die Geschichte aufzuarbeiten. Es werden Schulungen von allen Mitarbeitenden durchgeführt, wir haben Präventionskonzepte in jeder Einrichtung. Meldestellen sorgen für eine Kultur der Wachsamkeit und bringen jeden Fall bei uns zur Meldung.
Bei der Aufarbeitung wird es im Januar die sogenannte Forum-Studie geben, die einen Blick auf Hintergründe und Strukturen ermöglicht. Es gibt jetzt schon verschiedene Einzelfallstudien in unseren Einrichtungen. Es wird regionale Aufarbeitungsstudien geben, um den Betroffenen gerecht zu werden, um sie zu hören und um daraus zu lernen, damit sich so etwas nicht wiederholt.

DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche steht regelmäßig für ihren Umgang mit der Aufklärung von sexueller Gewalt in der Kritik. Bis auf Bischof Bode in Osnabrück ist nie ein Oberhirte im Amt tatsächlich zurückgetreten. Hat der Rücktritt von Frau Kurschus auch eine Signalwirkung über die evangelische Kirche hinaus, etwa auch mit Blick auf katholisches Spitzenpersonal?
Latzel: Ich kann nicht für die katholische Kirche sprechen, ich kann für uns als evangelische Kirche sprechen. Uns ist es wichtig, dass wir konsequent aufklären, dass wir uns dafür einsetzen, Betroffene zu hören.
Ich halte es für ein starkes Signal zurückzutreten, um der Aufarbeitung und der Diskussion nicht im Wege zu stehen. Daraus hat Annette Kurschus klare Konsequenzen gezogen.
DOMRADIO.DE: Es gibt immer wieder Stimmen, die von der Politik eine Wahrheitskommission fordern, weil die Kirchen die Aufarbeitung alleine nicht schaffen würden. Wie sehen Sie das?
Latzel: Wir sind völlig offen für jede Form von Mitarbeit und kooperieren sehr gerne auch bei diesem Thema selbstverständlich mit staatlichen, öffentlichen Stellen. Alle Studien, die wir machen, werden von unabhängiger Seite geführt.
Wenn es den Wunsch gibt, sind wir auf jeden Fall offen dafür. Wir sind in beiden Kirchen im Augenblick sehr intensiv an der Aufarbeitung dieses Themas tätig und hoffen, dass wir damit auch einen Beitrag zur Aufarbeitung des Themas gesamtgesellschaftlich leisten können.
Das Interview führte Mathias Peter.