DOMRADIO.DE: Wofür stand das Einhorn im christlichen Kontext?
Michael Philipp (Historiker, Literaturwissenschaftler und Chefkurator des Museum Barberini in Potsdam): Das Einhorn war ein Symbol für Christus. Das wiederum geht zurück auf ein Buch, das im zweiten, dritten Jahrhundert in Alexandria von einem nicht namentlich bekannten Autor geschrieben worden ist, genannt Physiologus, der Naturkundler. Physiologus hat alle möglichen in der Bibel genannten Tiere im christlichen Sinne interpretiert, darunter auch das Einhorn.
Sein Buch war das ganze Mittelalter über in Europa verbreitet. Jeder kannte es, jeder hatte es gelesen und insofern war allen Menschen des Mittelalters das Einhorn als ein Symbol für Christus vertraut.
DOMRADIO.DE: War denn immer klar, dass Einhörner Fantasiewesen sind oder glaubte man wirklich an deren Existenz?
Philipp: Bis ins 16. Jahrhundert hinein hat niemand an der Existenz des Einhornes gezweifelt. Dafür gab es mehrere Gründe. Einer davon ist, dass es in der Bibel mehrfach erwähnt wurde. Was in der Bibel steht, galt als reine Wahrheit.
Darüber hinaus haben Reisende vom Einhorn berichtet, das sie angeblich gesehen hätten. Das wurde in Reiseberichten gedruckt, die für bare Münze genommen wurden. Antike Naturkundler wie Plinius der Ältere haben das Einhorn beschrieben, auch deren Schriften hat man geglaubt. Insofern hat daran niemand gezweifelt. Das ist auch ein Grund, warum es in allen möglichen Bildern dargestellt wurde.
DOMRADIO.DE: Welche christlichen Darstellungen des Einhorns zeigen Sie in der aktuellen Ausstellung im Potsdamer Barberini Museum?
Philipp: Wir haben den christlichen Einhorn-Darstellungen ein umfangreiches Kapitel gewidmet. Chronologisch fängt es mit einer Bischofskrümme aus Elfenbein an, die im 12. Jahrhundert in Sizilien gefertigt wurde und ein Einhorn zeigt. Wir haben ein Bestiarium, also ein in Klöstern geschriebenes Manuskript aus dem dreizehnten Jahrhundert, in dem ein Einhorn auftaucht. Und wir haben verschiedene Altar-Bilder, Reliefs und Gemälde, die die mystische Einhornjagd im Hortus conclusus (dt. verschlossener Garten) zeigen. Das ist das zentrale Thema, in dem das Einhorn im christlichen Kontext immer wieder dargestellt wurde.
DOMRADIO.DE: Wie kam es dazu, dass das Einhorn zur Nippesfigur wurde, also zu einer beliebten Dekofigur aus Porzellan?
Philipp: Das ist eine Frage der Kommerzialisierung, die auf ein bestimmtes Bedürfnis zurückgeht. Das Einhorn ist etwas Magisches und Ästhetisches. Heute wird es gerne als ein weißes, pferdeähnliches Wesen dargestellt. Das war es die wenigste Zeit und in den wenigsten Darstellungen in der Kunstgeschichte. Heute kann jeder seine Idealvorstellungen in das Einhorn als ein Fabelwesen hineinprojizieren. Das hat mit der Kunstgeschichte gar nichts zu tun.
DOMRADIO.DE: Auf welches Exponat sind Sie besonders stolz?
Philipp: Wir haben sehr viele Werke für die Ausstellung zusammengetragen, die sehr selten ausgeliehen werden, die also nur für unsere Ausstellung kommen. Darunter sind allein zehn mittelalterliche Tapisserien (Anm. d. Redaktion: alte Wandteppiche, in der Regel meist gewebt). Was wir in der Ausstellung zeigen können, ist ein Panorama der Einhorndarstellungen bis ins 21. Jahrhundert. Es geht um die künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Einhorn vom Mittelalter bis in die Gegenwart hinein.
Das Interview führte Dagmar Peters.