Politologe kritisiert vermeintlichen CDU-Regierungsauftrag

"Davon steht in keiner Verfassung etwas"

Die CDU ist bei der NRW-Wahl stärkste Kraft geworden. Ministerpräsident Wüst sieht darin für sich einen Regierungsauftrag. Einen solchen gibt es jedoch nicht, meint Andreas Püttmann. Das sei eine Erfindung des politischen Diskurses.

Sieht im Wahlergebnis einen Auftrag zur Regierungsbildung – NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (l.) / © Michael Kappeler (dpa)
Sieht im Wahlergebnis einen Auftrag zur Regierungsbildung – NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (l.) / © Michael Kappeler ( dpa )

DOMRADIO.DE: Noch vor Wochen hat Hendrik Wüst von der CDU gesagt, man könne auch als zweitstärkste Partei in NRW die Regierung stellen. Genau das hat er aber gestern der SPD abgesprochen. So etwas macht Politiker nicht unbedingt glaubwürdiger, oder?

Dr. Andreas Püttmann (Politikwissenschaftler und Publizist): So ist es. Ein gewisses Maß an interessengeleitetem Reden ist zwar noch verträglich und üblich. Daran hat man sich gewöhnt. Aber man darf nicht zu krass widersprüchlich werden in den Kriterien, die man für politischen Anstand oder für politische Kultur formuliert.

Dr. Andreas Püttmann (privat)
Dr. Andreas Püttmann / ( privat )

Noch krasser war Armin Laschet in den Tagen nach der Bundestagswahl. Die CDU hatte 9 Prozent verloren, also doppelt so viel wie die SPD jetzt in NRW. Und Laschet sagte, man habe auch einen Wählerauftrag, eine Regierung zu bilden. Nun kann man natürlich nicht genau umgekehrt argumentieren. Das macht verdrossen, zerstört Vertrauen.

Dr. Andreas Püttmann

"Es ist schon so, dass der Zweitplatzierte auch eine Regierung bilden kann."

Es ist schon so, dass der Zweitplatzierte auch eine Regierung bilden kann. Das ist oft geschehen, etwa im Bund 1969, 1976 und 1980, auch schon in Nordrhein-Westfalen 1970 und 1975 oder spektakulär 2001 in Hamburg, als die CDU mit der Schill-Partei und der FDP gegen eine um 10 Prozentpunkte stärkere SPD die Regierung bildete.

Es würden wohl alle machen und gehört zur repräsentativen Demokratie, dass derjenige regiert, der eine Regierungsmehrheit zustande bringt. Es gibt, außer bei einer absoluten Mehrheit, keinen sogenannten Regierungsauftrag. Davon steht in keiner Verfassung etwas. Es ist eine Erfindung des politischen Diskurses.

Insofern könnte auch die SPD durchaus eine Ampelkoalition bilden. Immerhin war eine rot-grüne Regierung in den Umfragen die am meisten gewünschte Regierungskoalition.

DOMRADIO.DE: Lars Klingbeil von der SPD als Wahlverlierer sagt, Schwarz-Gelb sei abgewählt und feiert das. Wundert Sie auch, mit welchem Selbstbewusstsein Politiker auftreten?

Dr. Andreas Püttmann

"Je demonstrativer das Selbstbewusstsein, desto stärker die Verunsicherung, hat man manchmal den Eindruck."

Püttmann: Das klingt so ein bisschen wie das Pfeifen im Walde. Je demonstrativer das Selbstbewusstsein, desto stärker die Verunsicherung, hat man manchmal den Eindruck. Die SPD hat jetzt wirklich Grund, in sich zu gehen.

Ich meine, dass die Russlandpolitik der Bundes-SPD eine wesentliche Rolle für das schlechte Abschneiden gespielt hat. Denn etwa 40 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen haben die Bundespolitik auch als wesentlichen Beweggrund für ihre Landes-Wahlentscheidung angegeben.

Gleichzeitig sagten 59 Prozent, in der Ukraine-Politik sei die SPD in den letzten Monaten unentschlossen und zögerlich gewesen. Hier muss die SPD dringend aufrichtiger als bisher ihre Politik - speziell die einiger führender Personen - aufarbeiten, um wieder mehr Glaubwürdigkeit zu erlangen. Übrigens haben auch die AfD und die Linkspartei wie die SPD verloren, also auch Parteien, die mit mangelnder oder zögerlicher Unterstützung für die Ukraine aufgefallen sind.

DOMRADIO.DE: Die Grünen haben massiv gewonnen. Spitzenkandidatin Mona Neubaur ist aus der Kirche ausgetreten und will auch das Prozedere für Kirchenaustritte leichter machen. Muss das der katholischen Kirche Sorgen machen?

Püttmann: Die Menschen, bei denen die Kirchenmitgliedschaft nur noch an der Gebühr von 30 Euro hängt, die sie bei einem Austritt zahlen müssten, sind für die Kirche eh schon verloren. Es wäre eine sehr weltliche Sicht, wenn man hauptsächlich auf Gebühren und Kirchensteuern schauen würde. Ich meine auch, dass die katholische Kirche im Moment ganz andere Sorgen hat.

Aber es ist natürlich schon so, dass die Grünen insgesamt als Partei kirchenferner sind als die Union und auch als die SPD. Man sah es etwa auch daran, dass keiner der grünen Minister nach der Bundestagswahl seine Eidesformel mit der religiösen Bekräftigung geleistet hat.

Generell neigen die Parteien des linken Spektrums, aber auch die AfD, eher dazu, kirchenkritische Positionen zu beziehen. Differenzen zeigen sich besonders beim vorgeburtlichen Lebensschutz, teilweise auch bei der Familienformen-Politik. Andererseits gibt es durchaus auch Schnittmengen zwischen der katholischen Kirche und den Grünen: das konsequente Eintreten für die Bewahrung der Schöpfung oder bestimmte sozialpolitische Positionen.

Dr. Andreas Püttmann

"Also muss die CDU sehr aufpassen, dass sie ihr christliches Profil erkennbar macht, um ihre hoch motivierte Stammklientel nicht zu verlieren, selbst wenn die in der Gesellschaft schwächer wird."

Bei der CDU muss man sagen: Obwohl sie immer noch klar überdurchschnittlich von Katholiken gewählt wird – bei der Bundestagswahl von 35 Prozent, also 10 Punkten mehr als dem Ergebnis der Union insgesamt –,  entwickelt sich die CDU mit zunehmender Entchristlichung auch von einem christlichen Profil weg.

Gerade unter Friedrich Merz hat man den Eindruck, es könnte eine zweite, größere FDP daraus werden. Also muss die CDU sehr aufpassen, dass sie ihr christliches Profil erkennbar macht, um ihre hoch motivierte Stammklientel nicht zu verlieren, selbst wenn die in der Gesellschaft schwächer wird.

DOMRADIO.DE: Kann die SPD mit diesem historisch schlechten Ergebnis jetzt wirklich die Regierung als Ampelkoalition bilden wollen? Oder wird es jetzt eher Schwarz-Grün in Nordrhein-Westfalen?

NRW-Spitzenkandidaten zeigen Unterschiede bei Energiesicherheit

Die Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen setzen bei der Frage der Energiesicherheit unterschiedliche Akzente. NRW kann nach Ansicht von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) noch längere Zeit nicht auf Gas verzichten. "Wir werden auch in Zukunft Gas brauchen, nicht zuletzt für die Industrie", sagte der CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 15. Mai am Dienstag in der WDR-Live-Sendung "Wahlarena". Alle seien sich dabei aber einig, dass Deutschland infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine unabhängig von russischen Energielieferungen werden müsse.

Industrie im Ruhrgebiet / © Oliver Berg (dpa)
Industrie im Ruhrgebiet / © Oliver Berg ( dpa )

Püttmann: Das ist wahrscheinlicher als die anderen Möglichkeiten. Es gibt natürlich eine Legitimitätsvermutung für die Parteien als Regierungspartner, die bei einer Wahl deutlich zugelegt haben im Vergleich zu vorher. Bei der Bundestagswahl ist genau das eingetreten, dass die drei Parteien, die Stimmen dazu gewonnen haben, dann auch die Regierung bildeten.

Legitim ist jedoch nicht nur eine Regierungsbildung, wo die stärkste Partei auch den Regierungschef stellt. Nach der Bundestagswahl 1976 musste die Union unter Helmut Kohl mit fast 49 Prozent der Stimmen in die Opposition gehen, weil sich SPD und FDP auf eine Regierung geeinigt hatten.

Deswegen gibt es hier in NRW durchaus noch die Möglichkeit der Ampel, wenn sich Union und Grüne in den Verhandlungen verhaken. Die grüne Basis in NRW tickt auch eher links. Dann könnten die Grünen zumindest damit drohen und es auch realisieren, mit der SPD zu sprechen, die dann ihrerseits aus dem ersten Schock heraus wäre.

Und eine umworbene FDP, die gestern schon begonnen hat, die CDU zu kritisieren, könnte dann versuchen, sich doch noch einmal in die warmen Regierungssessel zu flüchten und ihre Koalitionen in Berlin und Düsseldorf zu synchronisieren. Also halte ich die Ampel nach wie vor für möglich. Sie wäre auch legitim. Aber zunächst ist die Legitimitätsvermutung zur Regierungsbildung natürlich bei der Union, die klar die Wahl gewonnen hat.

DOMRADIO.DE: Stichwort Wahlbeteiligung: Es gibt Stadtteile und Bezirke mit extrem schlechter Beteiligung. Häufig sind das Stadtteile, in denen sozial schwächere Menschen wohnen. Warum gehen die Menschen dann nicht zur Wahl?

Püttmann: Es gibt sehr unterschiedliche Motive. Es gibt nicht die "Partei der Nichtwähler", von der man immer wieder spricht. Da gibt es Leute, die aus Zufriedenheit nicht zur Wahl gehen, weil sie sagen: "Mir geht's gut und es wird schon keiner ganz falsch machen. Und heute ist schönes Wetter, da mache ich lieber mein Freizeitprogramm."

Es gibt die Frustrierten, die sagen: "Alle Parteien sind gleich und nerven mich." Es gibt die Unentschlossenen, die sich einfach nicht für eine Partei entscheiden können. Es gibt diejenigen, die einfach in aller Demut sagen: "Ich interessiere mich nicht für Politik und bin auch ziemlich inkompetent. Deswegen muss ich auch nicht mitbestimmen."

Dr. Andreas Püttmann

"Vielmehr ist in der Demokratie letztlich entscheidend, dass die Richtigen fleißig werden."

Sehr unterschiedliche Motive also. Und auch wenn für die Interessen-Integration eine hohe Wahlbeteiligung wünschenswert ist, warne ich davor zu meinen: Wenn nur alle mitmachen und wir die große Massenmobilisierung haben, dann haben wir auch die beste Demokratie. Das ist ein linkes Ammenmärchen, sage ich mal etwas polemisch zugespitzt, dass Partizipation das alles Entscheidende sei. Vielmehr ist in der Demokratie letztlich entscheidend, dass die Richtigen fleißig werden.

Das Interview führte Dagmar Peters.

Quelle:
DR