DOMRADIO.DE: Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) hat in einem Brief an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Kay Wegener (CDU), von einem systematischen Missbrauch des Kirchenasyls gesprochen, weil in einem Fall der betreffende Mann nur nach Schweden zurückgeschickt werden sollte. Wie sehen Sie das?
Sven Giegold (stellv. Mitglied der EKD-Synode und stellv. Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen): Der Brief des Bürgermeisters an seinen Kollegen ist in Ton und Inhalt hart, sowohl gegenüber der Situation in Berlin, die das Kirchenasyl im Gegensatz zu Hamburg grundsätzlich erachten, und auch im konkreten Fall.
Denn: Nur weil es sich um eine Dublin-Überstellung handelt, wird noch lange nicht automatisch die Menschenwürde geachtet. Wir haben viele Länder in der EU, die eine Abschiebepraxis haben, die wir im Einzelfall in Deutschland so nicht machen würden. Auch Schweden hat in der Vergangenheit Menschen in den Iran abgeschoben.
Im konkreten Fall handelt es sich um jemanden, der vom muslimischen zum christlichen Glauben konvertiert ist. Ihm droht in Afghanistan schweres Leid. Offensichtlich hat die Gemeinde vor Ort nach gründlicher Abwägung entschieden, dass das Risiko zu groß ist.
DOMRADIO.DE: Das Dublin-Abkommen sieht vor, dass Geflüchtete in das Land zurückkehren müssen, in dem sie zuerst registriert wurden. Das ist geltendes EU-Recht. Bricht das Kirchenasyl dann nicht EU-Recht?
Giegold: Diese Debatte, ob das Kirchenasyl ein Rechtsbruch ist, geht einen Schritt zu weit. Kirchenasyl ist kein Rechtsbruch. Es gibt eine Vereinbarung zwischen Staat und Kirchen, auf deren Grundlage das Kirchenasyl besteht. Diese Vereinbarung gibt es, weil man weiß, dass das europäische Asylverfahrensrecht in vielen Ländern nicht eingehalten wird – auch wenn es Menschenwürde garantieren soll.
Die EU-Kommission setzt dieses Recht kaum durch. Es gibt keine Vertragsverletzungsverfahren. Je weniger der Staat seine eigenen Maßstäbe erfüllt, desto größer wird der Druck auf das Kirchenasyl und desto mehr Fälle entstehen.
DOMRADIO.DE: In den vergangenen Jahren wurden die Regelungen für das Kirchenasyl verschärft. Erkennen Sie darin einen Versuch, das Kirchenasyl zu unterlaufen?
Giegold: Streng genommen wurden die Regeln nicht verschärft. Aber das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prüft die Härtefall-Dossiers der Gemeinden praktisch nicht mehr ernsthaft.
Früher hat das BAMF in Einzelfällen positiv beschieden. Heute passiert das kaum noch. Damit hält sich das BAMF nicht an die Vereinbarung mit den Kirchen. In der Folge bleiben die betroffenen Menschen im Kirchenasyl, bis die Frist für eine Überstellung abläuft.
DOMRADIO.DE: Von wie vielen Fällen sprechen wir derzeit?
Giegold: Wir bewegen uns seit Jahren im Bereich zwischen 2.000 und 3.000 Kirchenasyl-Fällen pro Jahr.
DOMRADIO.DE: Sie saßen viele Jahre im EU-Parlament. Wie handhaben andere europäische Länder das Kirchenasyl?
Giegold: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Formen des Kirchenasyls in vielen europäischen Ländern und die Kirchen engagieren sich europaweit ökumenisch für Geflüchtete. Wie stark das vom Staat respektiert wird, variiert.
In Finnland etwa gibt es eine ähnliche Praxis wie in Deutschland – aber in diesem Umfang gibt es Kirchenasyl sonst nirgends. Das hat auch mit unserer Geschichte zu tun. Für mich erinnert das Kirchenasyl auch an das Versagen der Kirchen im Nationalsozialismus. Deshalb haben wir als Christen in Deutschland eine besondere Verantwortung.
DOMRADIO.DE: Was fordern Sie in dieser Situation von der Bundesregierung in Sachen Kirchenasyl?
Giegold: Erstens sollte die Bundesregierung dafür sorgen, dass das BAMF die Härtefälle wieder ernsthaft prüft. Wenn das geschieht, würde auch die Spannung um das Kirchenasyl sinken.
Zweitens ist der Bruch mit dem Kirchenasyl – wie er in einigen Bundesländern geschieht – falsch. Denn es sind die Kirchen, die dem Staat helfen, seine eigenen Werte und Recht zu achten. Nicht die Kirchen brechen das Recht, sondern der Staat versagt an seinen Außengrenzen und bei der Einhaltung des Asylrechts an seinen eigenen Rechtsprinzipien.
Das Interview führte Hilde Regeniter.