Pater Zollner lobt Missbrauchsstudie im italienischen Bistum Bozen

"Das ist ein Kulturwandel"

"Mut zum Hinsehen" lautet das Motto der Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, welche die Diözese Bozen-Brixen angestoßen hat. Der Jesuitenpater Hans Zollner hofft dadurch auf eine Signalwirkung für die Kirche Italiens.

Autor/in:
Jan Hendrik Stens
Kathedrale von Bozen / © Vlad Zymovin (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Sie sagten vor einiger Zeit einmal, dass die italienischen Bistümer wenig bis gar kein Interesse zeigten, sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche aufzuarbeiten. Wie bewerten Sie jetzt vor diesem Hintergrund die Veröffentlichung des Gutachtens für das Bistum Bozen-Brixen?

 © Francesco Pistilli (KNA)
© Francesco Pistilli ( KNA )

Pater Hans Zollner SJ (Direktor des Institute of Anthropology, Interdisciplinary Studies on Human Dignity and Care (IADC) an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom): Das ist eine wichtige Entwicklung. Es ist die erste Diözese auf italienischem Staatsgrund, die ein Gutachten dieser Art vorstellt. Es ist eine große Signalwirkung zu erwarten. 

Italiener, nicht nur in der Bischofskonferenz, sondern auch allgemein, sehen Südtirol natürlich als eine besondere Region, zumal Deutsch dort von der Bevölkerungsmehrheit gesprochen wird und die Kultur sehr von österreichischen und süddeutschen Elementen durchzogen ist. Insofern ist es eine Besonderheit für Italien und man wird sehen müssen, wie die öffentliche Reaktion, auch in den Medien, und die von der Bischofskonferenz insgesamt ausfällt.

DOMRADIO.DE: Ist vor diesem Hintergrund auch zu erklären, weshalb eine Münchner Kanzlei mit dem Gutachten beauftragt worden ist?

Zollner: Das ist ein Element. Aber die beauftragte Kanzlei aus München hat sich ja in München selbst und dann in anderen Städten beziehungsweise Diözesen Deutschlands auch um die Aufarbeitung verdient gemacht. Es war auch eine Südtiroler Kanzlei mit einbezogen, aber im Grunde hat man sich also auf die Expertise, die in Deutschland und in jener Kanzlei vorliegt, verlassen.

DOMRADIO.DE: Bei den Ergebnissen fällt unter anderem auf, dass mehrheitlich weibliche Person von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Hier lohne sich eine weitergehende wissenschaftliche Untersuchung, so die Kanzlei bei der Vorstellung am Montag. Wie bewerten Sie als Wissenschaftler diese Erkenntnis?

Hans Zollner

"Das ist genau zu untersuchen."

Zollner: Das ist tatsächlich gegenläufig zu praktisch allen Daten, die wir aus Gutachten aus aller Welt haben, wo die Mehrheit der Betroffenen sexueller Gewalt, die von Klerikern ausgeübt wurde, männlich waren. Das ist relativ einmalig. Insofern ist es natürlich für den wissenschaftlichen Betrieb eine sehr lohnende Frage, wie das zustande kam. 

Da kann man auch daran denken, dass es unter Umständen für männliche Opfer in Südtirol Gründe gegeben haben kann, das nicht anzuzeigen, sich nicht als Betroffene zu erkennen zu geben. Das wäre eine mögliche Erklärung. Welche anderen kulturellen Faktoren da eine Rolle spielen, das ist genauer zu untersuchen.

DOMRADIO.DE: Ivo Muser, der Bischof von Bozen-Brixen, hatte noch vor fünf Jahren durch einen Finanzierungsentzug verhindert, dass eine solche Studie in Augenschein genommen wird. Daraufhin hat es Proteste gegeben. 

Am Montag dankte er den Betroffenen für ihre Mitarbeit an der Studie und nannte ihr Leid "beschämend für die Kirche". Hat hier ein Wandel in der Mentalität des Bischofs stattgefunden?

Bischof Ivo Muser, Bischof von Bozen-Brixen, 2013 im Vatikan / © Romano Siciliani (KNA)
Bischof Ivo Muser, Bischof von Bozen-Brixen, 2013 im Vatikan / © Romano Siciliani ( KNA )

Zollner: Das kann ich nicht beurteilen, ob ein Wandel in seiner Mentalität stattgefunden hat. Auf jeden Fall hat ein Wandel in dem, was er getan hat, stattgefunden. Und wir sind sehr froh, dass wir vom Institut für Anthropologie der Gregoriana hier über die letzten zwei Jahre in diesem Prozess mit eingebunden waren und dass es möglich war, die Diözese Bozen-Brixen in diesem Prozess zu begleiten. 

Hans Zollner

"So kann Kirche in Südtirol und darüber hinaus ein sicherer Ort sein."

Und zwar auch in dem Sinn, dass dieses Gutachten ja nur ein Teil eines Gesamtkonzepts ist, mit dem sich die Diözese nicht nur der Vergangenheit stellt, sondern auch fragt, was aus der Vergangenheit mit all den Verbrechen und dem Schaden, der geschehen ist, gelernt werden kann. 

So kann Kirche in Südtirol und darüber hinaus ein sicherer Ort und eine sicherere Anlaufstelle für jene sein, die missbraucht worden sind, die Missbrauch angezeigt haben oder Zeugen von Missbrauch gewesen sind und die sich als Mitglieder der Kirche engagieren.

DOMRADIO.DE: Der Bischof hat für Freitag eine Stellungnahme angekündigt. Was erwarten Sie von dieser Stellungnahme?

Zollner: Ich erwarte, dass er das, was er am Montag schon als Reaktion geäußert hat, noch einmal vertieft, dass der Blick auf die Betroffenen eine wichtige Stelle einnimmt und dass er noch einmal erläutert, wie das Konzept, das die Diözese in einem ständigen Prozess erarbeitet, um zu einem sichereren Ort zu werden, auch mit den Ergebnissen des Gutachtens bereichert beziehungsweise darauf basiert werden kann. 

Immer mit dem Ziel, dass möglichst Menschen in den kirchlichen Institutionen, in den Pfarreien, in der Jungschar, in den Schulen, in den Kindergärten, aber auch in der geistlichen Begleitung sicher sind und das auch eine Art Markenkern der Kirche für Südtirol und darüber hinaus ist.

DOMRADIO.DE: Könnte dieses Gutachten auch Signalwirkung für die anderen Diözesen in Italien haben? Also rechnen Sie damit, dass jetzt weitere Bistümer folgen werden?

Zollner: Ich rechne damit. Ich weiß nicht, wann das geschieht. Ich vermute, wenn man so die kulturellen Unterschiede in Italien anschaut, dass es vorwiegend im Norden aufgegriffen werden wird. Ich vermute auch, dass es ziemliche Widerstände geben wird, weil in Italien nicht nur in der Kirche, sondern in der Gesellschaft die in diesem Fall "deutsche Art", wie man mit schwierigen Fragen insgesamt umgeht, nicht die vorherrschende ist. 

Hans Zollner

"Ich nehme an, dass es auch in der Kirche bald zu weiteren Entwicklungen führen wird."

Das ist ein Kulturwandel. Ich bemerke auch aus Medienanfragen an mich selbst aus den letzten Tagen, dass die staatlichen Medien, also die RAI, sich für das Thema interessierten wie bisher noch nie. Also das ist für den zentraleuropäischen, für den deutschen Raum kaum vorstellbar, dass sich die großen Medien auch dieses Themas bisher noch nicht angenommen haben. 

Wie gesagt, weder für die Kirche noch für den Sport, noch für das Kino, für die Filmindustrie, für die Tourismusverbände und so weiter. Aber ich merke, dass da eine größere Sensibilität vorherrscht, die auch damit zusammenhängt, dass seit dem 1. Januar 2025 ein Gesetz vorschreibt, dass in bestimmten Institutionen, unter anderem Sportverbänden, jetzt "Safeguarding"-Beauftragte angestellt werden müssen. 

Allmählich sickert es auch in Italien durch und ich nehme an, dass es auch in der Kirche bald zu weiteren Entwicklungen führen wird.

DOMRADIO.DE: Am Mittwochabend wurde bekannt, dass die italienischen Bischöfe eine Pilotstudie über sexuellen Missbrauch durch Geistliche in den Jahren 2001 bis 2021 planen. Dazu sei in den vergangenen Monaten eine Testphase mit Beteiligung einiger Diözesen durchgeführt worden. Ein hoffnungsvolles Zeichen für Sie? 

Zollner: Das hat die Italienische Bischofskonferenz schon vor einiger Zeit angekündigt und nun wiederholt. Die Frage ist, warum sie sich auf den Zeitraum ab 2001 beschränken und nicht weiter in die Vergangenheit zurückgehen wollen.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Italiens Bischöfe planen Studie zu Missbrauch durch Geistliche

Italiens Bischöfe planen eine Pilotstudie über sexuellen Missbrauch durch Geistliche in den Jahren 2001 bis 2021. Dazu wurde in den vergangenen Monaten eine Testphase mit Beteiligung einiger Diözesen durchgeführt, wie die Italienische Bischofskonferenz zum Abschluss ihrer Vollversammlung in Rom mitteilte. Für die wissenschaftliche Untersuchung seien das Istituto degli Innocenti in Florenz und das Zentrum für Opferforschung und Sicherheit in Bologna zuständig. Sie seien als unabhängige Institutionen anerkannt.

Italienische Bischöfe hinter einer Madonnenfigur / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Italienische Bischöfe hinter einer Madonnenfigur / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )
Quelle:
DR

Die domradio- und Medienstiftung

Unterstützen Sie lebendigen katholischen Journalismus!

Mit Ihrer Spende können wir christlichen Werten eine Stimme geben, damit sie auch in einer säkulareren Gesellschaft gehört werden können. Neben journalistischen Projekten fördern wir Gottesdienstübertragungen und bauen über unsere Kanäle eine christliche Community auf. Unterstützen Sie DOMRADIO.DE und helfen Sie uns, hochwertigen und lebendigen katholischen Journalismus für alle zugänglich zu machen!

Hier geht es zur Stiftung!