Pater Dr. Jürgen Langer zu den Gründen für Suizid und der Arbeit der Seelsorger

"Keine bewusste Entscheidung gegen Gott"

Fast 10.000 Menschen begehen jährlich in Deutschland Suizid. Pater Dr. Jürgen Langer ist Seelsorger bei den Redemptoristen in Bonn und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema "Freitod". Im domradio-Interview erläutert er, warum man eben nicht von "Freitod" sprechen kann und wie sich die Rolle der Kirche im Umgang mit dem Thema gewandelt hat.

 (DR)

domradio: Warum bringen sich jedes Jahr in Deutschland so viele Menschen um?
Langer: Im Grunde gibt es zwei ganz große Ursachenbündel: Das eine ist der Bereich der seelischen Krankheit, wie hier im Fall Enke. Depressionen spielen eine große Rolle als Ursache für Selbsttötungen. Das andere Thema ist das der Krisen: dass Menschen in Krisensituationen und Zuspitzungen des Lebens keinen anderen Ausweg mehr sehen.

domradio: Es heißt oft, dass ein Suizid für alle überraschend gekommen sei. Ist das denn wirklich so?
Langer: Es gibt tatsächlich viele Fälle, in denen auch Angehörige und das Umfeld nichts bemerkt und auch im Nachhinein in der Rückschau nichts hatte bemerken können. Wo der Einzelne mit seinen Gedanken und letztlich mit der Entscheidung so für sich bleibt und nach außen nichts durchsickert. Es gibt aber natürlich auch viele Fälle, in denen es im Vorfeld eine ganze Menge an Anzeichen gegeben hat, die eine Reaktion ermöglicht haben.

domradio: Wie gehen Sie als Seelsorger mit den Schuldgefühlen der Angehörigen um?
Langer: Für viele Angehörige ist es eine große Hilfe, deutlich zu machen: Was ist Suizid, warum töten sich Menschen? Allein das Wissen, dass es viele andere Angehörige gibt, die auch nichts bemerken konnten, ist für viele eine Hilfe.

domradio: Ist Selbstmord egoistisch, weil sich viele Menschen danach Vorwürfe machen?
Langer: Es ist nicht egoistisch. Man spricht von einer maximalen Einengung der Psyche und der Seele. Die Menschen fokussieren nur noch ihre eigene Problemsituation und suchen dann nur noch ihren eigenen Ausweg. Angehörige sind in diesem Zustand gar nicht mehr im Blick, erst recht nicht z.B. ein Lokführer. Sonst würde so etwas gar nicht passieren.

domradio: Hat die hohe Anzahl von Selbsttötungen auch gesellschaftliche Gründe?
Langer: Deutschland liegt mit der Suizidzahl hoch, aber im internationalen Vergleich nicht übermäßig hoch. Einen direkten Zusammenhang z.B. von der wirtschaftlichen Situation einer Gesellschaft und der Suizidziffer ist nicht klar erkennbar. Z.B. sinkt die Zahl in Deutschland in den letzten Jahren etwas, obwohl es wirtschaftlich schwieriger geworden ist.

domradio: Was sagt die Kirche zum Freitod? Lange Zeit durften Selbstmörder ja nicht einmal in geweihtem Boden begraben werden.
Langer: Das lag daran, dass man den Freitod lange für eine freie Entscheidung hielt. Mit dem 2. Vatikanischen Konzil ist da ein tieferes Verständnis des Suizids in die katholische Kirche vorgedrungen. Es hat sich auch in der Kirche durchgesetzt, dass wir es hier mit einer psychischen Krankheit zu tun haben oder mit einer maximalen Einengung der Persönlichkeit, die keine freie Entscheidung mehr bietet. Und damit war klar: Wenn ich keine freie Entscheidung habe, liegt auch moraltheologisch keine verwerfliche Handlung mehr vor. Damit hat sich die gesamte Einstellung der Kirche verändert bis hin zum kirchlichen Begräbnis, das seit den 60er-Jahren wieder praktiziert wird. Weil man gemerkt hat, dass es Menschen in einer ganz schrecklichen Situation waren, die keinen anderen Ausweg mehr gesehen haben. Und keinesfalls Menschen, die eine bewusste Entscheidung gegen Gott als Geber des Lebens getroffen haben.

Das Interview führte Ina Rottscheidt.