Moraltheologe Bogner sucht Alternativen zum Kirchenaustritt

"Pastoraler Ungehorsam" statt Kirchenaustritt?

Bleiben oder gehen? Das fragen sich zurzeit viele Katholiken. Auf der Vollversammlung der katholischen Bischöfe ist das ein Schwerpunktthema. Für den Moraltheologen Daniel Bogner gibt es allerdings bessere Wege des Protests als nur den Austritt.

Symbolbild Kirchenaustritt / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Kirchenaustritt / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Ein Kirchenaustritt ist mehr als die Kündigung eines Zeitungs-Abos oder das Verlassen eines Sportvereins. Warum?

Prof. Daniel Bogner (Moraltheologe an der Universität Fribourg): In der Kirche zu sein, deckt mehr ab als ein partielles Interesse oder Bedürfnis, dem ich zum Beispiel nachgehe. Wenn ich mich zu einem Volkshochschulkurs anmelde oder mich bei einem Fitnessstudio einschreibe oder im Chor singe, sind das Interessen und Bedürfnisse, für die ich die Zugehörigkeit auch schon mal wechseln kann, ohne dass ich grobe Einschnitte in meinem Selbstgefühl habe. Ich wechsele den Sportverein, ich suche mir ein neues Fitnessstudio, wenn mir irgendwas nicht passt oder ich mich nicht mehr wohl fühle.

Religion hingegen ist ein Grundvollzug der menschlichen Existenz. In einer Kirche zu sein ist damit viel mehr als in irgendeinem Verein zu sein. Und das muss Kirchenleitung auch mit auf dem Schirm haben und mit berücksichtigen. Daran hakt aber ganz viel und deshalb ist "Kirchenaustritt: ja oder nein" auch zu unterkomplex formuliert. Man kann das zwar so entscheiden, "Jetzt trete ich aus", aber da hängt viel, viel mehr dran.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt da die Biografie, auch die eigene Kindheit? Wenn ich in einer katholischen Kirche und in einem katholischen Wertesystem aufgewachsen bin?

Bogner: Ganz viele Menschen, die sich in Kirche heute engagieren, haben das nicht irgendwann so frei angekreuzt. "Jetzt bin ich mal religiös oder werde religiös", sondern die haben das gelernt. Religion kann man zu einem Stück auch lernen - durch Vollzüge, in die man hineinwächst. Natürlich gehört dann auch das Moment der bewussten Entscheidung dazu.

In der katholischen Tradition spielen die Gewohnheiten, Rituale, auch die Bräuche, eine bestimmte religiöse Sprachweise, ein bestimmter religiöser Dialekt, eine überaus wichtige Rolle. Ich spreche von einer Religionskultur, mit der die Menschen aufgewachsen sind. Jetzt kann man zwar aus der rechtlichen Institution Kirche austreten, aber bei den meisten Menschen bleibt das Gefühl, ich kann damit diese religionskulturelle Prägung nicht einfach ablegen - und das sind ja auch religiöse Grundbedürfnisse.

Das Dilemma, das dann für viele entsteht, ist, dass man zwar rechtlich ausgetreten ist, aber für viele Menschen bleibt dann doch die Last, ihr religiöses Bedürfnis irgendwie weiterzupflegen und zu kultivieren. Und damit steht man dann ja irgendwie alleine da. Oder muss sich das selbst konstruieren, sich neue Gruppen suchen.

DOMRADIO.DE: Also ich höre da heraus, einmal katholisch, immer katholisch. Und wenn ich aus der katholischen Kirche austreten, dann ist da plötzlich eine große Leerstelle?

Bogner: Also "einmal katholisch, immer katholisch" klingt so ein bisschen plump. Da muss man jetzt ein bisschen nachhaken. Man kann eine religiöse Prägung nicht einfach wie alte Kleider ablegen und sich neue Kleider anziehen. Ich kann jetzt zwar entscheiden aus der katholischen Kirche juristisch auszutreten, aber ich persönlich würde sagen, ich bleibe in meiner religiösen Seele ein Katholik und meine religiöse Seele ist nicht nur ein kleiner Teil von mir, sondern der betrifft schon meine ganze Person.

Und in der gegenwärtigen Kirchenreformdebatte stellt sich die Frage, was bedeutet das für die Verantwortung von Kirchenleitung? Kirchenleitung muss nämlich auf dem Schirm haben, dass sie nicht nur eine institutionelle Organisation verwalten und gut managen muss, sondern dass sie das Dach, die Heimstatt für den Glaubensvollzug religiöser Menschen sein muss. Und das gibt Kirchenleitung nochmal eine ganz andere Verantwortung. Und daran hakt es heute oft.

DOMRADIO.DE: Was heißt das konkret für die Kirchenleitung? Was sollte, müsste sie tun?

Bogner: Wenn man sich anschaut, wie Kirchen-Organisationen noch vor 50 Jahren etwa in Westdeutschland aufgestellt waren und wie das heute ist, merkt man einen signifikanten Unterschied. Kirche ist immer mehr als soziale Organisation gewachsen und hat sich bürokratisch aufgebläht. So große Generalvikariate und Kirchenverwaltungen, wie sie heute die großen deutschen Bistümer es haben, gab es vor 50, 60 Jahren nicht. In Münster zum Beispiel bestand das Generalvikariat in den 1950er Jahren noch aus einer handvoll Leuten.

Kirche ist zunehmend im Zuge der Moderne und des 20. Jahrhunderts zu einer verwaltenden Institution des Religionsvollzugs geworden. Die Gefahr besteht dann, dass Kirchenleitung in viele Fallen tappen kann – und zum Beispiel auch übergriffig wird und Felder besetzt, die im Glaubensvollzug nicht unbedingt besetzt werden müssten, die sich auf lokaler, regionaler, auch auf individueller Ebene sowie auf Gemeindeebene oft eher beantworten und lösen lassen.

Kirchenleitung müsste heute zurückhaltender werden, bescheidener werden. Vielleicht wäre ein Rückbau der Kirchenverwaltung um die Hälfte für die Lebendigkeit des Glaubensvollzugs gar nicht so schlecht. Das ist auch übrigens in der katholischen Soziallehre das Prinzip der Subsidiarität, also dass nicht die obere Ebene alles regeln muss, wenn andere Ebenen das könnten.

Das Zweite: Die Verfassungsordnung der Kirche ist ein monarchisches System. Es gibt keine wirklich verbindliche Herrschaftskontrolle, keine Gewaltenteilung, keine verbindliche Partizipation der Kirchenmitglieder. Dieses Verfassungsmodell der Kirchenorganisationen in der Kirchenleitung fällt heute der Kirche auf die Füße, weil viele Menschen, die im Zuge der Moderne, andere Kulturen der Selbstverwaltung, der Lebensgestaltung gewohnt sind, auch demokratische Beteiligung auf Mitwirkung gewohnt sind, das nicht mehr akzeptieren, wie hier ihre Glaubensgemeinschaft geleitet wird.

DOMRADIO.DE: Was sagen Sie einem Menschen, der sagt, mir reicht es jetzt, ich trete aus der Kirche aus?

Bogner: Ich würde ihm sagen, halte einen Moment inne, überlege, ob es nicht noch andere Möglichkeiten gibt, trete erst mal innerlich aus dem Organisationsmodell - also wie deine Glaubensgemeinschaft die Religion verwaltet - aus, aber trete noch nicht formal juristisch aus, denn, wenn du ausgetreten bist, bist du draußen und hast auch die Mitwirkungsrechte verwirkt. Schau doch, ob es nicht, wenn du formal drin bleibst, andere wirkungsvolle Schritte und Zeichen gibt, um deinen Glauben in der Kirche zu leben.

Und das kann bedeuten, ich suche danach, wie ich einen Schritt zur Seite machen kann, einen Ausfallschritt, indem ich die mir angebotenen traditionellen Rollen, die diese Institution mir gibt, nicht einnehme, sondern sie verlasse. Das kann heißen, dass ich als Frau, die zu einer Laienpredigt eingeladen wird, weil man ausgebildete Theologin ist, darauf bestehe, dass diese Predigt auch am Ort der Predigt, im Ablauf der Eucharistiefeier stattfindet und nicht zu Beginn, wie das mancherorts noch geschieht. Das kann heißen, dass ich als Pastoralreferentin mich zusammenschließe mit meinem Berufsverband und sage: bestimmte Rollenzuweisungen im dienstlichen Miteinander akzeptieren wir nicht mehr. Das kann heißen, dass ich als Priester, der auch in eine bestimmte Rolle gezwängt wird, die ich mit meiner Berufung gar nicht ursprünglich gewählt habe, scheinbar immer folgsam und gehorsam gegenüber meinem Dienstherrn, dem Bischof, dass ich diese Rolle hinterfrage und thematisiere.

Das kann vieles heißen und ist je nach Rolle spezifisch und muss dort beantwortet werden. Aber es wäre generell die Überlegung: Kann ich aus meiner Rolle, die mir angeboten wird, vom Selbstverständnis der Institution einen Schritt zur Seite machen, diese Rolle in einer Art pastoralen Ungehorsam zumindest zeitweise verlassen und damit ein wirkungsvolles Zeichen setzen, dass ich einerseits am Glauben Interesse habe, ihn leben möchte als Gemeinschaft, als Kirche, aber andererseits mit der Art und Weise, wie dies bisher geschieht, zutiefst nicht einverstanden bin und ein Interesse habe, das weiterzuentwickeln.

Das Interview führte Johannes Schröer.


Quelle:
DR
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