DOMRADIO.DE: Wie ist die Situation der Christen im Irak zurzeit?

Udo Bentz (Erzbischof von Paderborn, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Naher und Mittlerer Osten der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz sowie Vorsitzender der Deutschen Kommission Justitia et Pax): Die Christen haben eine neue Freiheit wiedergewonnen und ein neues Grundmaß an Sicherheit gewonnen. Dafür sind sie dankbar. Aber ich habe zugleich erlebt, wie es auch neue Ängste gibt, und zwar aufgrund der Entwicklungen in Syrien.
Trotz dieser gewissen Stabilisierung nehme ich wahr, dass junge Menschen für sich in ihrem Heimatland nur schwer eine Perspektive für die Zukunft entwickeln können. Die Christen innerhalb des Landes kehren zwar zurück in ihre angestammten Gebiete, aber es ist für mich sehr deutlich geworden: Wer einmal das Land Richtung USA, Europa oder Kanada verlassen hat, kehrt anscheinend nicht mehr zurück. Diese sogenannte Diaspora, also außerhalb des Iraks, wird für die Kirche hier vor Ort im Irak ein essenzielles Thema. Das spiegelt sich zum Beispiel auch in den geringen Berufungszahlungen für Priester oder Ordensleute wider.
DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung hat die Kirche im Versöhnungsprozess im Irak?
Bentz: Da geht es meiner Auffassung nach um eine doppelte Solidarität. Da gibt es die ideelle Solidarität, auch die geistlich-spirituelle und zudem eine ganz konkret gelebte Solidarität. In unseren Unterstützungsprojekten können wir, davon bin ich überzeugt, einen wichtigen Beitrag leisten, Christen zum Bleiben zu ermutigen.

Dabei ist es uns wichtig, dass wir alle christlichen Konfessionen im Blick halten, dass wir unsere Hilfe gerade auf humanitäre und soziale Unterstützung, nicht allein auf die Christen und die Kirchen beschränken.
Man muss sich immer bewusst machen, dass auch viele Muslime unter der Terrorherrschaft des "IS" gelitten haben. Würden wir ausschließlich den Christen helfen, dann laufen wir Gefahr, gesellschaftliche Verwerfungen damit eher wieder zu vertiefen. Deswegen ist unsere Unterstützungshilfe auch Friedens- und Versöhnungsarbeit.
DOMRADIO.DE: Sie haben Vertreter aus Politik, Kirche und Gesellschaft getroffen. Welchen Eindruck nehmen Sie aus diesen Gesprächen mit?
Bentz: Mir war wichtig, ganz verschiedene Perspektiven in den Blick zu nehmen. Da gibt es durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen. Ich war zum Beispiel bei einem ökumenischen Treffen mit jungen Leuten. Für diese jungen Menschen ist die Erfahrung von Gemeinschaft und die Möglichkeit, sich gegenseitig auch über die eigene Kirche, die eigene Konfession hinaus zu stärken, ganz wichtig. Für sie weitet das die Perspektive.
Man muss sich vorstellen, dass die jungen Leute in den oft sehr kleinen Gemeinschaften vor Ort durch solche Begegnungen erleben, dass wir eben doch keine Exoten sind. Solche Treffen stärken das Selbstbewusstsein der christlichen Minderheit. Wenn wir auf die sozialen Projekte von Caritas und CAPN, die christliche Hilfe für die Region in Kurdistan, schauen, dann wird deutlich, dass Christen nicht nur für sich leben wollen, sondern auch ganz bewusst einen Beitrag zur Entwicklung der ganzen Gesellschaft leisten.

Die Sorge der Bischöfe vor Ort fokussiert sich auf die institutionelle Absicherung. Sie engagieren sich auch für die politischen Rahmenbedingungen. Es geht auch darum, dass die Christen in der Gesellschaft die gleichen Rechte bekommen, die ihnen die Verfassung tatsächlich zusagt. Diese Dinge müssen umgesetzt, gelebt und verwirklicht werden.
DOMRADIO.DE: Welche Hilfsprojekte der Caritas haben Sie besucht?
Bentz: In Bagdad bei der Caritas Irak habe ich ein Zentrum besucht, das Eltern in die Lage versetzt, ihren Kindern mit Behinderung bestmögliche Unterstützung zu geben und ihren Kindern die bestmögliche Förderung zuteilwerden zu lassen. Eltern lernen, wie sie mit der Behinderung ihres Kindes umgehen können. Sie lernen gemeinsam mit ihren Kindern durch Sprachtherapie, durch Förderung von kognitiven Fähigkeiten, wie sie auch die eigenen Kräfte des Kindes mobilisieren können. Hier sind christliche und muslimische Eltern gemeinsam Lernende.
Das Engagement und die Selbstlosigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Freiwilligen in diesem Zentrum waren für mich außerordentlich eindrucksvoll. Vor allen Dingen auch deshalb, weil ich auch erleben konnte, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem gemeinsamen Gebet, in einem gemeinsamen kleinen Gottesdienst ihre Arbeit sozusagen auch spirituell fundiert hatten.

DOMRADIO.DE: Kann Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes aus den Erfahrungen des Irak lernen, wie man nach dem Sturz eines Terrorregimes zu neuer Zuversicht und gemeinsamer Verantwortung aller Bevölkerungsteile finden kann?
Bentz: Auf der einen Seite sieht man hier, dass Neuanfänge möglich sind. Auf der anderen Seite kehre ich nachdenklich nach Deutschland zurück, und zwar angesichts der Skepsis, die ich gegenüber der veränderten Situation in Syrien wahrgenommen habe.
Die Menschen hier haben mir erzählt, dass sie den Worten der neuen Führung in Syrien noch nicht trauen. Man hofft, dass die getätigten Zusagen von Religionsfreiheit und von gleichen Rechten umgesetzt werden und keine leeren Worte oder Formeln bleiben. Von daher ist für mich der Irak weniger Vorbild als vielmehr Mahnung für Syrien.
Das Interview führte Johannes Schröer.