Hildegard-Dinkelkekse, Hildegard-Fastensuppe, Hildegard-Ringelblumencreme: Die Produktpalette heutiger Bioläden wimmelt von Artikeln, die nach der Ordensfrau aus dem Mittelalter benannt sind.
Hildegard von Bingen in erster Linie mit Gewürzen, Kräutern und Gesundheitstipps in Verbindung zu bringen, ist ein Trend, der seit etwa einem halben Jahrhundert anhält und den die Benediktinerin Christophora Janssen bedauert. Ihre Abtei Sankt Hildegard in Rüdesheim im Rheingau steht in direkter Nachfolge der von Hildegard gegründeten Klöster Rupertsberg und Eibingen und Schwester Christophora findet es einfach schade, dass so viele Hildegard heute vor allem für eine Kräuterfachfrau halten.
Nicht nur Heilkundige
"Das spiegelt unsere Gesellschaft, die so stark auf Körper, Gesundheit und Wellness fixiert ist." Natürlich sei es gut, wenn Menschen über Kochrezepte nach Hildegard von Bingen auch Zugang zu ihrer Musik und ihren Schriften und damit zu ihrer menschenbejahenden Theologie bekämen. "Aber viele bleiben beim Bild der Heilkundigen stehen."
Hinzu komme, dass die heute angebotenen Rezepte und Kräuterbücher größtenteils frei verarbeitete Informationen aus Hildegards naturheilkundlichen Schriften seien, die mit den Originalaussagen oft nur noch am Rand zu tun hätten. "Da denke ich: Mensch, es steckt doch so viel mehr dahinter! Hildegard hat doch so viel mehr zu bieten für meine Seele und meinen Geist!" sagt Sr. Christophora Janssen.
Sie selbst ist nicht nur Ordensfrau, sondern auch Keramikkünstlerin und hat sich Hildegard als solche bildnerisch genähert. Dabei konnte sie lange gar nicht so viel anfangen mit der Nonne aus dem 12. Jahrhundert. Erst die intensive Beschäftigung mit Hildegards Wirken und Werken hat sie für Sr. Christophora zu dem gemacht, was sie ihr heute ist: eine persönliche geistliche Inspiration nämlich. Hildegard, sagt sie, sei eine starke, inspirierende und intellektuelle Frau gewesen, eine große Theologin mit einem "wunderbaren Menschenbild".
Als "Kosmologische Anthropologie", wird Hildegards Theologie in der Wissenschaft bezeichnet, erklärt Sr. Christophora weiter. Hildegard gehe davon aus, dass Gott uns liebt und als Menschen gut geschaffen hat, dass die Schöpfung schön und ein Bild Gottes ist, durch das wir Menschen Gott erkennen. "Ich finde ihren Ansatz hochaktuell, weil er den Menschen in den Mittelpunkt stellt."
Emanzipierte Ordensschwester
Dass Hildegard in der Männerwelt des Mittelalters als überaus emanzipierte Frau agierte, steht für die Benediktinerin außer Zweifel. Wirklich erstaunlich sei gewesen, wie sie sich gegen alle Widerstände vom Männerkloster Disibodenberg lösen und ihre Frauengemeinschaft auf dem Rupertsberg aufbauen konnte. "Dass sie das psychisch und physisch durchgezogen hat, ist enorm", findet Sr. Christophora, auch wenn Hildegard als Tochter einer Adelsfamilie natürlich mehr Möglichkeiten gehabt habe als einfache Bauersfrauen.
Weil Hildegard ihr Frauenkloster mit ausgeprägten Managerinnen-Qualitäten organisierte, öffentlich predigte und im regen Austausch mit kirchlichen und politischen Autoritäten ihrer Zeit stand, weisen Katholikinnen gerne auf ihr emanzipatorisches Potenzial hin. Durchaus zu Recht findet Sr. Christophora, schließlich trat Hildegard laut ihrer Biografie als Predigerin auf, sie korrespondierte mit Königen und Päpsten. Und es wird berichtet, dass ein Adeliger kurz vor seinem Tod bei ihr gebeichtet hat.
Dennoch, so die Einschätzung der Benediktinerin, sollten wir Hildegard als mittelalterliche Ordensfrau aus ihrer Zeit heraus verstehen. "Ich vermute, dass sie, wenn sie jemand gefragt hätte, ob sie Priesterin werden will, bei ihrem traditionellen Kirchenbild geblieben wäre und verneint hätte". Sr. Christophora Janssen sieht den Fokus bei Hildegard darauf liegen, dass sie als Frau offen gesprochen habe - in großer spiritueller und theologischer Freiheit, einzig ihrem Gewissen vor Gott verpflichtet.
Frau der Einheit der Kirche
"In ihren Schriften ist sie total katholisch. Aber von ihrer eigenen Meinung hat sie sich nicht abhalten lassen, auch nicht vom Papst oder sonst irgendjemanden." Und apropos Papst: Dass Benedikt XVI. Hildegard im Jahr 2012 zur Kirchenlehrerin erhoben hat – als eine von gerade einmal vier Frauen – freut die Rüdesheimer Ordensschwester. Die Tatsache, dass Hildegard noch vor der Reformation lebte, mache sie auch zu einer Frau der Einheit der Kirche; dass ihre Schriften als Kirchenlehrerin nun von höchster katholischer Stelle autorisiert seien, rechtfertige sie noch einmal besonders als Inspirationsquelle für alle.
Hildegards wichtigste Botschaft an uns heute formuliert Sr. Christophora so: "Kehrt zu Gott als Mittelpunkt eures Lebens zurück. Ihr seid Geschöpfte Gottes und könnt in Gott selbst Leben und Freude finden. Macht euch klar, dass es nicht um Macht, Einflussnahme und Karriere geht!" Aus ihrem festen Glauben an die persönlichen Beziehungen des Menschen zum Schöpfergott habe Hildegard ihre äußeren Aktionen gestalten und politisch sehr klug agieren können. Aus ihrem Glauben heraus habe sie sich positionieren können, auch zu einer klaren politischen Haltung gefunden. Darin sei Hildegard absolut Vorbild für uns heute, sagt Sr. Christophora. "Aber die Grundlage dafür ist, dass wir uns wirklich in Gott verwurzeln."