Neuer Schulbischof über Lehrer-Klischees und Schüler-Erfolge

"Pisa hat einen Skandal aufgedeckt"

Der Erzbischof von Paderborn, Hans-Josef Becker, ist kürzlich zum Schulbischof der Deutschen Bischofskonferenz gewählt worden. Als Vorsitzender der Kommission für Erziehung und Schule wird er bildungspolitische Entwicklungen analysieren und kirchliche Empfehlungen zum Thema Schule und Erziehung geben.

 (DR)

Der Erzbischof von Paderborn, Hans-Josef Becker, ist kürzlich zum Schulbischof der Deutschen Bischofskonferenz gewählt worden. Als Vorsitzender der Kommission für Erziehung und Schule wird er bildungspolitische Entwicklungen analysieren und kirchliche Empfehlungen zum Thema Schule und Erziehung geben. Vor dem Theologiestudium hat er selbst ein volles Lehramtsstudium für Grund- und Hauptschulen absolviert. Warum die bundesweit rund 1.160 katholischen Schulen eine große Nachfrage verzeichnen und warum er viele Vorurteile über Lehrer für unberechtigt hält, erklärte der Erzbischof am Sonntag in Paderborn im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

KNA: Herr Erzbischof, welche Aufgaben haben Sie als neuer Schulbischof vor sich?

Becker: Der so genannte Schulbischof ist Vorsitzender der Kommission für Erziehung und Schule der Deutschen Bischofskonferenz. Ihr gehören mehrere Bischöfe sowie Berater aus Wissenschaft und Schulverwaltung an. Wir haben die Aufgabe - das habe ich als Mitglied in den vergangenen vier Jahren kennen gelernt -, die bildungs- und schulpolitischen Entwicklungen zu analysieren. Das ist bundesweit unterschiedlich, weil die Kulturhoheit ja bei den Ländern und nicht auf Bundesebene liegt.
Diese Entwicklungen müssen wir auf die Auswirkungen auf den Religionsunterricht und die Trägerschaft katholischer Schulen hin überprüfen. Die Kommission gibt außerdem Empfehlungen zum kirchlichen Handeln in Schule und Erziehung. Und die Bischofskonferenz hat sich immer wieder mit Bildungsfragen befasst, zuletzt auf dem Studientag der Vollversammlung in Fulda.

KNA: Vor Ihrer Entscheidung zum Priestertum waren Sie einige Zeit Lehrer. Was war das Schönste an diesem Beruf?

Becker: Nach der Zeit als Referendar habe ich mich zwar für das Theologiestudium entschieden, aber Kinder und Jugendliche gehörten schon immer zu meinem Interessensfeld - schon in der Jugendarbeit, die mich geprägt hat. Kinder und Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsensein zu begleiten, ihre Wege und Umwege mitzuerleben, ihnen Wissen und Glauben zu vermitteln, das fand ich immer spannend und herausfordernd. Vieles davon habe ich zum Glück als Gemeindeseelsorger fortführen können. Kindern und Jugendlichen einen Zugang zum Glauben zu eröffnen, ist ja wesentliche Aufgabe eines Priesters.

KNA: Wird der Lehrerberuf von vielen zu negativ bewertet?

Becker: Es gibt viele Klischees über Lehrer, die meiner Ansicht nach durch glaubwürdige Persönlichkeiten widerlegt werden müssen.
Und davon gibt es ja Gott sei dank genug unter den Lehrern. Durch meine biografische Vorprägung werde ich auf solche Vorurteile besonders achten und positiv dagegenhalten.

KNA: Katholische und evangelische Schulen führen lange Wartelisten. Was machen sie besser als andere Schulen?

Becker: Ich bin von der Qualität konfessioneller Schulen überzeugt. Die Nachfrage nach Plätzen an katholischen Schulen übersteigt bei weitem das Angebot, um etwa ein Viertel. Was Eltern an unseren Schulen schätzen, ist die Verbindung von gutem Unterricht, individueller Förderung und eindeutig christlicher Werteerziehung. Wir halten es für wichtig, im Unterricht und im täglichen Umgang christliche Werte wie Respekt, Gerechtigkeitsempfinden, Verantwortungsgefühl, Einfühlungsvermögen, Vergebungsbereitschaft zu vermitteln. Das kann auch eine gute Leuchtfeuerfunktion für derzeitige Überlegungen zum Bildungssystem haben.

KNA: Deutsche Schüler erhielten in Pisa- und OECD-Bildungs-Studien keine guten Noten. Was läuft falsch?

Becker: Wenn ich das so eindeutig und knapp beantworten könnte, müssten sich Wissenschaftler damit nicht lange aufhalten.
Deutsche Schüler haben offensichtlich in den Studien mittelmäßige Ergebnisse erzielt. Aber es wäre falsch, dies einem mangelnden Leistungswillen der Kinder oder fehlender Disziplin zuzuschreiben. Für Lernerfolge sind immer Eltern, Lehrer und Schüler gemeinsam verantwortlich. Wir nennen das an unseren Schulen "Erziehungsgemeinschaft". Diesen Aspekt sollten wir stärken. Darauf möchte ich die Öffentlichkeit künftig verstärkt aufmerksam machen.

Mehr als die mittelmäßigen Ergebnisse erschreckt mich aber ein anderer Befund: die enge Verbindung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Ein beträchtlicher Teil der Schüler verlässt die Schule mit so geringen Kenntnissen, dass sie eine Berufsausbildung gar nicht erst finden oder nicht abschließen können. Dann bleiben sie dauerhaft außen vor. Das wirkt sich auf das Selbstwertgefühl und das Empfinden von Würde aus. Die mangelnde Bildungsgerechtigkeit ist der eigentliche Skandal, den Pisa aufgedeckt hat.

KNA: Die Kirche vertritt einen ganzheitlichen Bildungsbegriff.
Sie will den Nachwuchs nicht auf Fähigkeiten reduzieren, die die Arbeitswelt von ihm verlangt. Fördern deutsche Schulen soziale und musische Seiten genug?

Becker: Da gibt es große Unterschiede zwischen einzelnen Schulen, auch zwischen katholischen Schulen. Aber generell hat die musische Bildung an katholischen Schulen einen hohen Stellenwert.
Wir bemühen uns, Musik und Kunst in vollem Umfang zu erteilen.
Außerdem gibt es ergänzend Chöre, Orchester, Theatergruppen, literarische Zirkel - oft auf hohem Niveau. Das ist keine nette Zugabe, sondern gehört für uns zum ganzheitlichen Bild. Die "Nützlichkeit" wird man wohl nie messen können, aber sie ist vorhanden.

KNA: Der Wirbel um die Rütli-Schule in Berlin hat die Augen dafür geöffnet, dass es an zahlreichen deutschen Schulen Probleme mit Gewalt und Ausländerintegration gibt. Wo sehen Sie Lösungswege?

Becker: Ich sehe keine Patentlösungen. Es sind extrem schwierige Situationen vor Ort. Die darf man nicht herunterspielen. Konkrete Lösungen können aus meiner Sicht nur von Lehrern, Eltern, Schülern, Politikern gemeinsam in den Schulen und Bezirken gefunden werden. Drei Dinge sind mir wichtig: Erstens müssen wir Migrationskindern das Gefühl geben, dass sie willkommen sind. Sie verdienen unsere Sympathie. Türkische oder arabische Kinder sind auch unsere Kinder. Sie leben mit uns. Zweitens sollten wir an unseren Schulen eine Kultur gegenseitiger Achtung und Verantwortung pflegen und einfordern. Dazu gehören verbindliche Regeln, die von allen eingehalten werden müssen. Drittens sollten wir die Zusammenarbeit von Schule und Familie fördern. Denn Erziehung und Bildung werden grundgelegt im Elternhaus, nicht erst in der Schule. Auf Schulen und staatliche Institutionen zu verweisen, die aufarbeiten sollen, was elementar fehlt, wäre nur der zweitbeste Weg.