Misereor stellt Jahresbilanz vor

Mit dem Virus kommt der Hunger

Gut 230 Millionen Euro Spenden hat das Hilfswerk Misereor in Entwicklungsprojekte in 90 Ländern investiert. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie erschweren die Arbeit des Hilfswerks gegen den Hunger – aber auch der Eurozentrismus der Politik. 

Symbolbild Hunger / © panitanphoto (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Letztes Jahr, da hatten wir Corona noch überhaupt nicht auf dem Schirm. Was hat denn die Pandemie jetzt für Auswirkungen auf Ihre Arbeit?

Monsignore Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor): Mit allen Projektpartnern in knapp 90 Ländern erarbeiten wir Ziele, was wir mit jedem Projekt erreichen wollen. Aber: Vier Milliarden Menschen weltweit waren oder sind im Lockdown. Dieser Lockdown hatte zur Folge, dass die Ziele, die in Arbeit waren, so nicht umgesetzt werden können. Also war die große Frage: Wie können wir bisherige Ziele umwidmen? Wie können wir dann auch Gelder, die für bestimmte Ziele da waren, umwidmen, sodass sie unter Corona-Bedingungen eingesetzt werden können?

DOMRADIO.DE: Was bereitet Ihnen jetzt im Hinblick auf die Pandemie besondere Sorge?

Spiegel: Wir erleben in Europa, in Nordamerika und generell im globalen Norden, dass die Frage der Nachhaltigkeit ganz zentral vorne steht. Immer wieder wird nach einer Green Recovery gefragt: Wie also Investitionen so getätigt werden können, dass sie nachhaltig sind und den Klimawandel berücksichtigen.

Vom globalen Süden hören wir aber: Wir hungern. Ich hatte in den letzten Tagen verschiedene Gespräche mit Freunden und Freundinnen in Brasilien. Die erste Auskunft war immer: Wir hungern hier. Wir merken, dass Krisen, die eh schon da waren - aber eher hinter einer Wolke, durch die Pandemie jetzt wie ein Brennglas zum Vorschein kommen.

Die Pandemie löst an anderen Orten der Welt nicht nur durch den Virus selbst Not aus, sondern als Folge des Virus kommt auch der Hunger wieder hoch. Laut Zahlen der Welternährungsorganisation wird es aufgrund der Corona-Pandemie 130 Millionen Hungernde mehr geben auf unserem Planeten.

DOMRADIO.DE: Die nächste große Herausforderung wartet schon – nämlich der Klimawandel. Wie nehmen Sie den als Hilfswerk jetzt schon wahr in den Ländern, in denen Sie arbeiten?

Spiegel: Wir spüren, dass durch den Klimawandel in fast allen Kontinenten die Migrationszahlen zunehmen. Menschen können auf dem Land, auf dem sie bisher gelebt haben, nicht mehr weiter leben. Sie müssen woanders hin. Wie wird diese gesamte Frage politisch angegangen werden und wirtschaftlich angegangen werden?

Menschen, die selbst nicht den Klimawandel verursachen, weil sie nur einen sehr geringen ökologischen Fußabdruck haben, sind die ersten Betroffenen. Wie kann da weltweit Solidarität gelebt werden? Es ist kein Automatismus, dass die Frage der Corona-Pandemie mit der Frage der Nachhaltigkeit, des Klimas, und der Ungleichheit verbunden wird. Wir von Misereor wollen mit anderen Organisationen ein starker Akteur sein, der diese Zusammenhänge immer wieder deutlich macht.

DOMRADIO.DE: Vor diesem Hintergrund: Was wünschen Sie sich da an Unterstützung von der Politik?

Spiegel: Wir wünschen uns, dass die Politik nicht eurozentrisch ist, nicht nur deutschlastig, sondern dass die Politik diese Zusammenhänge sieht. Es kann zum Beispiel die Umweltfrage nicht nur von den Bundesministerien für Umwelt und Entwicklung behandelt werden, sondern sie muss in allen Politikbereichen Thema sein.

In allen Bereichen muss die Frage der Nachhaltigkeit, muss die Frage der Ungleichheiten und des Hungers Thema werden. Ganz wichtig sind auch öffentliche Zugänge zur Gesundheit, sodass jeder Mensch, der auf diesem Planeten lebt, Gesundheitszugänge hat. Diese müssen unabhängig sein vom Beruf, von der persönlichen Lebensgeschichte und unabhängig vom Ort, an dem man lebt.

DOMRADIO.DE: "Was wir aus der Corona- und der Klimakrise lernen können" – das haben Sie ja auch als Titel für Ihre Veranstaltung heute gewählt. Was können wir lernen? Was ist da das Dringendste?

Spiegel: Dringend ist wahrzunehmen, wo die Leidpotenziale sind, wo die Vulnerabilität ist. Wir haben gespürt, dass unser Ernährungssystem und unser Gesundheitssystem sehr fragil sind. Eine Pandemie kann diese Systeme von Grund auf erschüttern. Da gilt es, zu sehen: Wie können wir eine bessere Prävention treffen, damit dies zukünftig nicht mehr geschieht?

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender des Bischöflichen Hilfswerks Misereor / © Julia Steinbrecht (KNA)
Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender des Bischöflichen Hilfswerks Misereor / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR