Misereor warnt vor Bolsonaro-Wiederwahl in Brasilien

"Wir sind sehr besorgt"

Auch der noch amtierende Präsident Bolsonaro stellt sich am 2. Oktober in Brasilien zur Wahl. Die Bilanz seiner vorangangenen Amtszeit fällt verheerend aus, sagt Misereor-Geschäftsführer Pirmin Spiegel. Alle hoffen auf einen Wechsel.

Indigene Frau trägt Mund-Nasen-Bedeckung mit der Aufschrift "Amazonia" während Demos für Regenwald / © Eraldo Peres (dpa)
Indigene Frau trägt Mund-Nasen-Bedeckung mit der Aufschrift "Amazonia" während Demos für Regenwald / © Eraldo Peres ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie haben lange in Brasilien gelebt. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie auf die vier Jahre Amtszeit von Jair Bolsonaro blicken?

Pirmin Spiegel / © Dominik Wolf (KNA)
Pirmin Spiegel / © Dominik Wolf ( KNA )

Monsignore Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerks Misereor): Der Wahlkampf ist sehr stark polemisiert. Die Gewalt spielt eine sehr große Rolle momentan. Es wird nicht nur der Präsident neu gewählt, sondern auch Gouverneure sowie Landes- und Bundesabgeordnete. Daher besteht die Sorge, dass die Wahlen am 2. Oktober mit Gewalt verbunden sein könnten. 

DOMRADIO.DE: Bolsonaro ist nach aktuellen Prognosen auf Platz zwei bei den Wählerbefragungen. Eine große Rolle spielen dabei neben den Großgrundbesitzern auch die Evangelikalen. Er bezeichnet sich selber auch als Gesandter Gottes. Bei der letzten Wahl hat fast die Hälfte aller Evangelikalen für ihn gestimmt. Was ist das für eine Verbindung? Warum stehen die gerade auf seiner Seite?

Spiegel: Nach den letzten Umfragen werden erneut zwischen 55 und 60 Prozent der Evangelikalen Bolsonaro wählen. Seine Frau hat letzte Woche gesagt, wenn Bolsonaro gewählt werden würde, würde Jesus in die Regierung eintreten. Er hat drei große Schlagwörter, die uns auch von anderen Ländern bekannt sind: Es geht darum, Gott, das Vaterland und die Familie zu schützen. Er macht eine sehr stark moralisierende Politik.

Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien / © Marcos Correa/Palacio Planalto (dpa)
Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien / © Marcos Correa/Palacio Planalto ( dpa )

Diese Schlagworte Gott, Vaterland, Familie kommen bei großen konservativen Gruppen in Brasilien und ganz Lateinamerika gut an. Wir sind sehr besorgt, weil er offen für das Töten von Banditen eintritt und den Waffenkauf enorm forciert hat im Sinne von: Jeder Brasilianer und jede Brasilianerin habe das Recht sich zu verteidigen. Es steht am 2. Oktober sehr viel auf dem Spiel für den zukünftigen Weg Brasiliens und auch ganz Lateinamerikas.

Monsignore Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Katholischen Entwicklungswerks Misereor

"Es steht am 2. Oktober sehr viel auf dem Spiel für den zukünftigen Weg Brasiliens und auch ganz Lateinamerikas."

DOMRADIO.DE: Misereor ist in Brasilien aktiv. Hat sich da Ihre Arbeit in den letzten Jahren unter so einer autoritären Führung anpassen müssen?

Spiegel: Die Schwerpunkte, die wir in Brasilien als Misereor haben, ist die Förderung der Zivilgesellschaft, der Rechte indigener Völker und Schutz des Amazonasregenwaldes. Wir sind sehr stark in der bürgerlichen Landwirtschaft engagiert. Deshalb haben uns unsere Partner gebeten, weiterhin an ihrer Seite zu stehen. Wir haben in Brasilien mehr als 200 Projektpartner.

Genau darum geht es, dass wir diese Räume für demokratische Teilhabe und für ein anderes Modell weiterhin unterstützen. Es ist ganz interessant, dass die brasilianische katholische Bischofskonferenz gesagt hat, dass Brasilien eigentlich ein Land ist, das systemisch ungleich ist. Die Frage ist also, wie wir mit unseren Partnern einen Beitrag leisten können, gerade diese systemische Ungleichheit der letzten vier Jahre zu unterbrechen und uns für eine größere Gerechtigkeit und Teilhabe einsetzen.

DOMRADIO.DE: Auf Platz eins bei den Umfragen kommt der ehemalige Gewerkschaftsführer "Lula" da Silva. Er war 2003 bis 2010 schon einmal Präsident und hat damals Sozialprogramme auf den Weg gebracht. Aber es gab auch viele Skandale, Korruptionsvorwürfe und ihm wird vorgeworfen, Linkspopulist zu sein. Wäre "Lula" das kleinere Übel?

Luiz Inacio Lula da Silva bewirbt sich um die Wiederwahl in Brasilien 2022 / © Silvia Izquierdo (dpa)
Luiz Inacio Lula da Silva bewirbt sich um die Wiederwahl in Brasilien 2022 / © Silvia Izquierdo ( dpa )

Spiegel: "Lula" hat in der Tat nicht die ganz weiße Weste. Er ist ein charismatischer Politiker. Ich habe ihn selbst mehrmals persönlich erlebt. Aber es stehen ganz große Leitlinien für die Zukunft an. Es leben 33 Millionen Menschen in Ernährungsunsicherheit. Das ist sehr viel. Die Hälfte der Brasilianer und Brasilianerinnen hat keine adäquate Ernährung. Die Gewalt hat enorm zugenommen. Die Demokratie wurde immer fragiler. Zivilgesellschaftliche Möglichkeiten wurden unterbunden. Abbau sozialer Rechte. Die Pandemie hat hunderttausende Tote gekostet, die nach Aussage der Weltgesundheitsorganisation vermeidbar gewesen wären. Der Schutz des Regenwaldes und indigener Völker steht dem Modell Bolsonaros, Förderung der Agrarindustrie, entgegen.

Von daher steht nicht nur viel auf dem Spiel, sondern die Mehrheit der Brasilianer und Brasilianerinnen verbindet auch sehr viel Hoffnung damit – auch die Mehrheit unserer Partner –, dass am kommenden Sonntag ein anderer Präsident als Nachfolger von Bolsonaro gewählt wird.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Kirche in Brasilien

Mit geschätzt rund 125 Millionen Katholiken (nach offiziellen Taufzahlen des Vatikan 171 Millionen) ist Brasilien das größte katholisch geprägte Land der Welt. Angesichts enormer sozialer Gegensätze ist das Engagement der Kirche für Arme und Entrechtete weithin anerkannt; Brasilien ist einer der Ausgangspunkte der sogenannten Theologie der Befreiung. Zugleich macht der katholischen Kirche eine wachsende Zahl protestantischer und evangelikaler Kirchen und Sekten ihre Rolle streitig.

Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa (dpa)
Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa ( dpa )
Quelle:
DR