Misereor-Referentin Dirksmeier in Sorge um Afghanistan

"Viele Menschen werden den Winter nicht überleben"

Wie steht es um die Menschen in Afghanistan sechs Monate nach der Machtübernahme durch die radikalislamischen Taliban? Misereor Länderreferentin Anna Dirksmeier zeichnet ein bedrückendes Bild. Vor allem die Lage der Frauen sei schwer.

Autor/in:
Joachim Heinz
Flüchtlingslager für Geflüchtete aus Afghanistan / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Flüchtlingslager für Geflüchtete aus Afghanistan / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

KNA: Frau Dirksmeier, wie beurteilen Sie die Lage in Afghanistan ein gutes halbes Jahr, nachdem dort die Taliban wieder an der Macht sind?

Anna Dirksmeier (Misereor Länderreferentin): Am Anfang schien vieles unklar, inzwischen hat sich das Regime etabliert. Man hatte ja lange gehofft, dass die gemäßigte Doha-Fraktion, die damals die Machtübernahme verhandelt hat, die Oberhand gewinnen würde. Das ist nicht der Fall. Die Hardliner vom Haqqani-Netzwerk bekleiden inzwischen wichtige Posten, zum Beispiel den des Innenministers. Das zeigt klar: Mit dem Regime ist nicht zu spaßen.

KNA: Was bedeutet das für die Arbeit von Misereor und den Partnerorganisationen?

Dirksmeier: Man spürt eine sehr große Ernüchterung, aber gleichzeitig einen hohen Pragmatismus, weil es ja irgendwie vorangehen muss. Unsere Partner haben das Land nicht verlassen und versuchen, ihre Möglichkeiten auszuloten. Vor Ort ist unter dem Regime mehr möglich, als man vermuten würde. Das lässt den Rückschluss zu: Verhandeln ist immer die beste Option.

Anna Dirksmeier, Länderreferentin bei Misereor



"Vor Ort ist unter dem Regime mehr möglich, als man vermuten würde."

KNA: Was genau ist denn möglich?

Dirksmeier: In einer Projektregion im Nordwesten Afghanistans gibt es mehrere Frauenbildungszentren, die Computer- und Englischkurse, Unterricht in Mathematik und politischer Bildung geben oder Sportangebote machen. Die mussten unsere Partner erst einmal schließen, weil niemand wusste, ob sie die Frauen gefährden, die dorthin kommen. Dann haben sie mit den lokalen Taliban geredet und eine Wiedereröffnung erwirkt.

KNA: Zu welchen Bedingungen?

Dirksmeier: Zunächst hieß es: Frauen dürfen nur von Frauen unterrichtet werden. Das ist derzeit aber praktisch nicht möglich. Die zweite Auflage: Die Frauen sollten vom älteren Bruder oder dem Vater zum Bildungszentrum begleitet werden. Aus menschenrechtlicher Sicht ist das höchst problematisch, weil man dadurch Frauen zu Kindern degradiert. Davon abgesehen hat kaum ein Bruder oder ein Vater Zeit, um die Frauen zu begleiten. Die sind damit beschäftigt, das Überleben für ihre Familien zu sichern. Deswegen hatten unsere Partner bereits einen Fahrdienst organisiert, der Frauen abholen sollte. Der ist jetzt aber nicht mehr nötig, weil die Frauen so mutig waren, selbst mit den Taliban zu verhandeln. Sie gehen nun zu Fuß zum Zentrum - wie früher.

KNA: Was schließen Sie daraus?

Dirksmeier: Dass es Spielräume für mehr Frauenrechte gibt. Aber wie weit sie gehen, lässt sich noch nicht sagen. Grundsätzlich treten wir bei allen unseren Projekten mit dem Anspruch der Geschlechtergerechtigkeit an.

KNA: Wie erklärt man einem Taliban die Idee von Geschlechtergerechtigkeit?

Dirksmeier: Darin sind unsere Partner geübt. Vor den Taliban mussten sie die Väter, Brüder oder Ehemänner der Frauen für sich und die jeweiligen Projekte gewinnen. Gerade in ländlichen Regionen herrscht oft noch ein sehr hierarchisches Familienbild vor. Dass Frauen alleine auf den Markt gehen können und dort Preise aushandeln, ist alles andere als selbstverständlich.

Anna Dirksmeier, Länderreferentin bei Misereor

"Dass Frauen alleine auf den Markt gehen können und dort Preise aushandeln, ist alles andere als selbstverständlich."

KNA: Es scheint, dass die Taliban wollen, dass das so bleibt.

Dirksmeier: Die lokalen Taliban kommen zum Teil aus Koranschulen in Pakistan, haben davon abgesehen kaum Bildung - aber lassen sich mitunter von der Idee anstecken, dass es gut ist, wenn Frauen zum Haushaltseinkommen beitragen können. Es gibt positive Beispiele - wenn auch nicht flächendeckend.

KNA: Ein anderes Problem ist der grassierende Hunger. Helfer schlagen bereits seit längerem Alarm...

Dirksmeier: Schätzungsweise 97 Prozent der Menschen bekommen nicht genug zu essen. Viele von ihnen werden nicht über den Winter kommen, weil sie so geschwächt sind. Im Winter nehmen Armutskrankheiten rasant zu. Dabei liegen Lebensmittel in den Geschäften bereit - aber es fehlt komplett an Kaufkraft.

KNA: Warum?

Dirksmeier: Es ist kein Geld im Land; internationale Konten, auf denen Milliarden lagern, sind eingefroren. Die Taliban können noch nicht einmal ihre ehemaligen Kämpfer bezahlen. Die Unzufriedenheit wächst, was sich auch schon in Plünderungen gezeigt hat. Die Gefahr eines Bürgerkriegs ist immer noch nicht gebannt. Hinzu kommt, dass eine schwere Dürre im vergangenen Jahr zu massiven Ernteausfällen geführt hat. Da müsste von staatlicher Seite gegengesteuert werden, aber so etwas ist in Afghanistan momentan nicht denkbar, weil die Staatskasse leer ist.

Anna Dirksmeier, Länderreferentin bei Misereor

"Die Gefahr eines Bürgerkriegs ist immer noch nicht gebannt."

KNA: Aktuell schaut die Welt auf den Krieg in der Ukraine – was sollte die Staatengemeinschaft für Afghanistan tun?

Dirksmeier: Es muss dringend etwas für die vielen Binnenflüchtlinge unternommen werden, die in irgendwelchen Zelten auf öffentlichen Plätzen hausen. Auch über die eingefrorenen Konten müssen wir reden. Wenn Afghanistan weiter so ausgeblutet wird, kann das mit Nothilfe nicht mehr kompensiert werden. Und Deutschland muss mehr für seine Ortskräfte tun. Es sind noch längst nicht alle außer Landes gebracht, die an Leib und Leben bedroht sind. Afghanistan darf jetzt nicht in Vergessenheit geraten.

KNA: Angesichts der Eskalation in der Ukraine dürfte das derzeit schwierig sein...

Dirksmeier: Natürlich müssen wir auch mögliche Flüchtlinge aus der Ukraine im Blick haben, vielleicht auch russische Regimekritikerinnen und -kritiker, soweit sie es  außer Landes schaffen. Grundsätzlich gilt: Menschen, die fliehen müssen, weil ihre Menschenrechte verletzt werden, kann man nicht gegeneinander ausspielen.

Afghanistan

Afghanistan ist ein Binnenstaat in Asien. Etwa drei Viertel der Landesfläche von 652.000 Quadratkilometern bestehen aus schwer zugänglichen Gebirgsregionen. Nachbarstaaten sind China, Iran, und Pakistan sowie die früheren Sowjetrepubliken Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Seit den 1970er-Jahren hat der Staat am Hindukusch keine längere Friedensperiode mehr erlebt.

 (DR)
Quelle:
KNA