Millionen Chinesen machen sich auf Heimreise zum Neujahrsfest

25 Stunden ohne Sitzplatz unterwegs

Das Neujahrs- oder Frühlingsfest am 26. Januar gilt in der kommunistisch regierten Volksrepublik als wichtigster Feiertag. Kurz vorher reisen täglich rund fünf Millionen Chinesen mit dem Zug in ihre Heimatorte. Manche brauchen viele Stunden, anderen bleibt die Reise ganz verwehrt.

Autor/in:
Kristin Kupfer
 (DR)

Mehrmals wendet Dong Weisheng (47) die gerade erstandenen Zugtickets vom Verkaufsschalter des Pekinger Bahnhofs hin und her. Zwei Fahrkarten ohne Sitzplatz für einen abendlichen Sonderzug nach Harbin, die Hauptstadt von Chinas nordöstlichster Provinz Heilongjiang, hat der Wanderarbeiter für sich und einen Freund erstanden. Rund 25 Stunden wird Dong bis in seine Heimatstadt unterwegs sein, um rechtzeitig zum chinesischen Neujahrsfest bei seiner Familie zu sein.

Nicht jeder hat so viel Glück wie Dong Weisheng. Fahrkarten zu bekommen, ist schwer. Staats- und Parteichef Hu Jintao hat deshalb erstmals persönlich einen Maßnahmenkatalog zum reibungsloseren Ticketverkauf für die Bevölkerung verkündet. Denn häufig zweigt das Bahnpersonal Fahrkarten ab und verlangt unter der Hand überhöhte Preise dafür.

Die Unzufriedenheit kocht hoch
Zum diesjährigen Fest kocht die Unzufriedenheit besonders hoch. Die Wirtschaftskrise trübt vielen Chinesen die Feststimmung. Nach den Fabrikpleiten mit Millionen entlassener Wanderarbeiter in Süd- und Ostchina ist die Krise nun auch unter den Stadtbewohnern spürbar.

Nach Angaben des chinesischen Arbeitsministeriums haben sich im vierten Quartal eine halbe Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Damit stieg die nur in den Städten erhobene Arbeitslosenrate erstmals seit Mai 2003 auf nun rund 4,2 Prozent. Die inoffizielle Rate schätzen Experten sehr viel höher ein, da Wanderarbeiter und Universitätsabsolventen in der Statistik fehlen.

Zwei im Internet verbreitete Skandale zum Kartenverkauf sorgten für zusätzlichen Unmut. Ein 66 Jahre alter Mann soll beim Anstehen über Nacht vor einem Fahrkartenschalter in der südöstlichen Stadt Hangzhou gestorben sein. Und drei Videoclips auf dem Portal YouTube zeigen Verkäufer des Pekinger Hauptbahnhofes, die hinter geschlossenem Schalter Massen von Tickets ausdrucken.

Hu Jintaos Maßnahmenkatalog soll diese Zustände ändern. Die Zahl der Züge und Schalter wurde erhöht, Agenturen und Hotels bekommen keine weiteren Fahrkarten zum Verkauf. Das Personal im Bahnhof darf keine Handys und kein Bargeld mit hinter die Schalter nehmen. Wer illegal Tickets verkauft, wird sofort entlassen. Erwischte Zwischenhändler landen im Gefängnis.

Auf dem Vorplatz des Pekinger Bahnhofs sind zur Überwachung des Fahrkartenverkaufs fünf Polizeiwagen postiert. Für bestimmte Zielregionen gibt es nun Sonderschalter. Elektronische Anzeigetafeln weisen die Zahl der noch verfügbaren Schlaf- und Sitzplätze in Zügen aus.

Trauriger als die Wirtschaftskrise
Im Vergleich zum vergangenen Jahr sei dies eine große Verbesserung, meint Lu Nan (27). Nach nur 15 Minuten hat er eine Karte für die Heimreise in die vier Stunden entfernte Stadt Tangshan in der Nachbarprovinz Hebei erstanden. "Aber das ist eine Kurzstrecke", sagt der Angestellte einer Handelsfirma. "Viele meiner Kollegen erzählen, dass sie noch Probleme beim Ticketkauf haben."

Nach einer laufenden Umfrage des Webportals QQ haben 63 Prozent der 35.000 Teilnehmer kein Ticket oder nicht das gewünschte Ticket bekommen. Für die meisten Chinesen ist es indes kaum vorstellbar, nicht nach Hause zu Eltern und Verwandten zu fahren. "Nicht am Neujahrsfest zu Hause zu sein, ist so ziemlich das Schlimmste und Traurigste, was einem passieren kann", sagt der Angestellte Lu. Das sei sogar noch schlimmer und trauriger als die Wirtschaftskrise.