Mieth zieht nach 60 Jahren Bilanz

"Mehr Rücksicht nehmen"

Der deutsche Ethiker Dietmar Mieth feiert am Mittwoch seinen 80. Geburtstag. Im Interview spricht er über sein neues Buch "Nicht einverstanden". Darin gibt er unter anderem einen Einblick in sechs Jahrzehnte wissenschaftlicher Theologie und Ethik.

Ethik ist auch eine Frage der Abwägung / © Billion Photos (shutterstock)
Ethik ist auch eine Frage der Abwägung / © Billion Photos ( shutterstock )

KNA: In Ihrem Buch spürt man: Sie lieben es zu erzählen. In Ihrer "Narrativen Ethik" greifen sie auch gern auf Erzählungen zurück. Warum?

Prof. Dr. Dietmar Mieth (Ethiker, Theologe und Autor): In literarischen Erzählungen werden oft moralische Erfahrungen, im Guten wie im Schlechten, greifbar. Die Frage ist dann nicht nur: was ist gut oder schlecht, was richtig oder falsch, sondern die Frage ist zum Beispiel auch: Wie können Menschen tun, was sie eigentlich wollen, oder warum misslingt ihnen das? Oft ist dies eine Anregung zu weiterem Nachdenken, auch um bestehende Normen zu überprüfen.

KNA: Sie beschreiben sich selbst als "Perspektivisten". Was heißt das?

Mieth: Ich versuche, Probleme und Fragestellungen aus unterschiedlichen Sichtweisen zu betrachten. Wer sehen will, wie Dinge zusammenhängen, muss sie in ihrer Geschichte und in der Gegenwart betrachten. Es geht mir darum, unterschiedliche Perspektiven zusammen zu führen.

KNA: Gleichzeitig sehen Sie sich als einen Menschen mit festen Überzeugungen, der auch zum Widerstehen bereit ist. Wie passt das zusammen?

Mieth: Ein konstruktiver Nonkonformist sagt nicht nur, wogegen, sondern auch wofür er ist. Wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin, sollte ich eine gut begründete und klare Vorstellung davon haben, was besser wäre.

KNA: Mit Blick auf Ihre Kirche haben Sie sich immer wieder mit dem Begriff "Laie" befasst, ...

Mieth: ... den ich entsprechend seiner griechischen Wurzel mit "dem Volk Gottes zugehörig" übersetze. Und dann sind alle Laien: Männer und Frauen, Priester und Nicht-Priester. Oft wird Laie falsch verstanden als Nicht-Fachmann oder als Person, der es an der vollen christlichen Kompetenz mangelt. Auf der gemeinsamen Basis könnten die Strukturen der Kirche neu errichtet werden. Wenn auch nicht von heute auf morgen in Form eines Umsturzes. Aber es gilt, der Perspektive vom Volk Gottes als christliche Grundlage mehr Raum zu geben. Aktuell ist es zum Beispiel so, dass Laien zwar bei einer Synode Mitsprache haben, aber geht es dann an die Umsetzung, können sie sich nicht mehr wirksam artikulieren.

KNA: Sie erinnern sich in Ihrem Buch an einen Dialog mit Eugen Drewermann, der sich - mutmaßlich selbstironisch - als den beschreibt, der von außen Steine durch die Fenster wirft, während Sie sich selbst als jemand sehen, der innen die Steine aufsammelt und neu aufbaut.

Mieth: Weil ich die Kirche anders, aber keine andere Kirche will. Ich habe mich immer damit auseinandersetzen müssen, warum ich einmal mit acht Jahren katholisch geworden bin. Ich sehe Vorzüge des Katholischseins in der Kindheit, halte aber durchgreifende Reformen für absolut notwendig. Beispielsweise brauchen wir dringend mehr regionale und institutionelle Gewaltenteilung und mehr Mitspracherechte in der Kirche. Aktuell kontrollieren diejenigen das Kirchenrecht, die es erlassen. Und wir brauchen auch mehr Mitsprache der Frauen. Warum sollte nicht eine Frau das vatikanische Laiendikasterium leiten? Und warum sollten nicht Frauen Kardinäle werden können?

KNA: Was bedeutet Ihr Ansatz für ethische Fragen?

Mieth: Der Mensch darf nicht Opfer uneinsichtiger Moraldiktate sein. Es gilt, mehr Rücksicht auf das Menschengemäße zu nehmen. Ethik sollte auf die moralischen Erfahrungen der Menschen über das Richtige und das Falsche eingehen und diese aufarbeiten. Und nicht ein falsch verstandenes Naturrecht oder die Autorität einer traditionellen kirchlichen Lehre in den Mittelpunkt rücken.

KNA: Sie äußern Skepsis gegenüber Papst Franziskus und dessen Leitungsstil. Sie sehen bei ihm Bewegung, aber nicht, wohin diese führt.

Mieth: Weil mir die Konturen einer institutionellen Vision fehlen. Der Papst regiert und reagiert nur fallweise. Ich vermisse eine durchgängige Konzeption. Sicher scheint mir nur: Westeuropa wird zunehmend abgehängt. Die Weltkirche erhält zunehmend asiatische und lateinamerikanische Züge. Am ehesten wird der Katechismus aktuell in Asien befolgt.

KNA: Die letzte Frage geht an den Sportethiker. Haben Sie Spaß, während der Pandemie den teils komplett abgehobenen Millionären beim Kicken zuzuschauen - oder ist das schon billiger Moralismus?

Mieth: Puh, schwierig. Ich bin Fußballfan, und deshalb schaue ich natürlich. Trotz aller finanzieller Interessen: Wer bei der aktuellen Freizeitbetätigungssperre im Wohnzimmer festgehalten ist, sollte guten Gewissens zusehen dürfen.

Das Interview führte Michael Jacquemain.


Archivbild: Der Theologe Dietmar Mieth im April 2001 / © R. Maro (KNA)
Archivbild: Der Theologe Dietmar Mieth im April 2001 / © R. Maro ( KNA )
Quelle:
KNA