Malteser beschreiben dramatische Lage in Haiti

"Medizinische Versorgung ist katastrophal"

Die Hilfsorganisation Malteser International hat sich auf den Weg nach Haiti gemacht, um vor Ort die Lage im Erdbebengebiet einzuschätzen. Nothelfer Toni Gärtner sieht eine angespannnte Lage, aber auch viel Widerstandskraft.

Nach dem Erdbeben in Haiti / © Danie Duval (Malteser International)

DOMRADIO.DE: Beschreiben Sie uns das Bild, das sich Ihnen geboten hat, als Sie in Haiti angekommen sind.

Toni Gärtner (Nothilfeexperte Malteser International in Haiti): Umso näher man dem Epizentrum des Erdbebens kommt, desto verheerender ist die Situation. Das Problem ist ein wenig, dass die Region hier sehr zersiedelt ist und man weite Strecken fahren muss, um das eigentliche Ausmaß der Katastrophe überhaupt zu erfassen. Das heißt, die ersten paar hundert Kilometer haben wir kaum zerstörte Häuser gesehen und umso näher wir kamen, desto massiver wurde die Zerstörung.

Wir waren in Regionen, wo weit über 90 Prozent der Häuser zerstört sind. Die gesamte öffentliche Infrastruktur ist zerstört. Kirchen, Friedhöfe, Schulen, das Wassersystem. Die Zerstörung ist massiv, auch wenn sie nicht so konzentriert ist wie beim letzten verheerenden Erdbeben 2010, wo es hauptsächlich die Hauptstadt Port au Prince getroffen hat.

DOMRADIO.DE: Haiti hat eine hohe Kriminalitätsrate, Banden kontrollieren Verbindungswege. Behindert Sie das als Helfer?

Gärtner: Die angespannte Sicherheitslage ist seit Jahren ein Problem für die Haitianer, aber auch für uns humanitäre Helfer jetzt ganz akut. Es gibt Regionen, die sind nicht zugänglich. Nicht nur aufgrund der physischen Situation wegen Erdrutschen oder blockierten und zerstörten Straßen oder Brücken, sondern auch weil die Regionen von Gangs kontrolliert werden.

Die Vereinten Nationen haben schon vor einigen Jahren einen Flugshuttle eingerichtet, mit dem man von Port au Prince, der Hauptstadt in verschiedenste Regionen fliegen kann. Der ist natürlich jetzt im Rahmen der Krise massiv überbelastet, weil viele ausländische Helfer ins Land kommen und dementsprechend die Ressourcen aktuell nicht füllen. Das heißt, man muss sich selbst ein bisschen seinen Weg in die betroffenen Landesteile suchen. Das geht aber vor allen Dingen mit Unterstützung unseres lokalen Partners und der Menschen vor Ort ganz gut.

DOMRADIO.DE: Schon vor dem Erdbeben war die medizinische Versorgung in Haiti schlecht. Wie würden Sie sie aktuell beschreiben?

Gärtner: Also ich denke, die medizinische Versorgung kann man mit Fug und Recht als katastrophal bezeichnen. Wir haben sehr, sehr viele Kliniken gesehen, von denen man gesehen hat, dass sie nach dem letzten Beben erst neu aufgebaut wurden und die eigentlich - so zumindest meiner Einschätzung nach - eine ganz gute medizinische Grundversorgung anbieten. Aber genau diese Kliniken und vieles Material wurden durch das erneute Erdbeben zerstört.

Das heißt, was viele aus dem Gesundheitssektor, die hier sehr engagiert arbeiten, machen, ist Zelte oder Planen draußen im Freien aufspannen und versuchen, nach besten Kräften mit den wenigen Ressourcen, die sie jetzt noch haben, ihre Landsleute zu behandeln.

DOMRADIO.DE: Was können Sie für die Menschen in Haiti tun?

Gärtner: Also tun kann man für die Haitianer grundsätzlich erst einmal vieles. Denn bedauerlicherweise sind die Bedarfe eigentlich in allen Bereichen des Lebens da. Es mussten ja viele Deutsche selber unlängst erleben, wie schnell eine Existenz zerstört werden kann durch eine Naturkatastrophe. Dementsprechend haben die Leute hier Bedarf an so ziemlich allem medizinischer Versorgung, Trinkwasser, an Essen, an psychosozialer Betreuung und langfristig natürlich auch am Wiederaufbau ihrer Häuser.

Wir sind ja aktuell in Haiti, um einzuschätzen für Malteser International, wo wir den Menschen kurzfristig und langfristig unsere Unterstützung zuteil werden lassen können. Das ist noch nicht raus. Aber es ist klar, dass Haiti wie auch vorher schon, Jahre auf die Unterstützung seiner Nachbarn und der internationalen Gemeinschaft angewiesen sein wird.

DOMRADIO.DE: Wie werden Sie aufgenommen?

Gärtner: Überall, wo wir hinkommen, werden wir eigentlich sehr positiv aufgenommen. Wir als Malteser International haben den großen Vorteil, dass wir uns nach 2010 nie aus dem Land zurückgezogen haben, sondern seitdem in verschiedensten Landesteilen mit einem lokalen Partner verschiedenste Projekte im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit umsetzen. Das heißt, man kennt unseren lokalen Partner, der seit mehreren Jahren eine fantastische Arbeit gemacht hat und jetzt auch in dieser Katastrophe wirklich Stärke und Mut bewiesen hat, seine Landsleute zu unterstützen.

Überall, wo wir hinkommen und uns vorstellen als Malteser International, werden wir sehr positiv aufgenommen. Die Leute freuen sich, uns zu sehen. Selbst wenn sie wissen, dass es keine unmittelbare Unterstützung in dieser Situation gibt, sind sie dankbar für das, was da kommen könnte. Das ist schön zu sehen.

DOMRADIO.DE: Welcher Eindruck wird für Sie bleiben, wenn Sie Haiti wieder verlassen?

Gärtner: Also am meisten beeindruckt hat mich tatsächlich die Widerstandsfähigkeit, wenn ich das mal so nennen will, der Haitianer. Man sieht hier nirgendwo jemanden rumsitzen und weinen oder verzweifelt durch die Straßen laufen, obwohl das ja binnen kürzester Zeit schon das dritte Mal ist, dass hier viele Existenzen zerstört wurden. Ich weiß nicht, woran es liegt, ob es die haitianische Mentalität ist, oder die Gewohnheit nach so vielen Katastrophen. Aber diese Stärke und dieser Wille wieder aufzubauen und weiterzumachen, das ist sehr beeindruckend. Das hat mich in vielen Situationen mitgenommen.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Toni Gärtner (r.) beim Einsatz in Haiti / © privat (Malteser International)

Nach dem Erdbeben in Haiti / © Danie Duval (Malteser International)
Quelle:
DR
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