Martin Mittelmeier über die 'Dialektik der Aufklärung'

'Ein Exerzitium zur Selbstbesinnung'

Die 'Dialektik der Aufklärung' wurde von der 68er Generation zum großen Bekenntnisbuch. Martin Mittelmeier hat sich auf die Spuren des Jahundertbuches begeben. Auf DOMRADIO.DE erzählt er, warum das Buch auch ein 'Exerzitium zur Selbstbesinnung' ist.

Martin Mittelmeier / © Marie Kellenberg (Siedler Verlag)

“Ganz grundsätzlich ist es eine Kritik der Vernunft in der doch eigentlich immer weiter verfeinerten Entwicklung des Fortschritts unserer Gesellschaft. Es geht um die Frage, warum es in der vernunftbegabten Menschheit immer wieder Rückschritte gibt - bis hin zur Barbarei des Nationalsozialimus?”, fasst Martin Mittelmeier im DOMRADIO.DE Interview die Kernfrage des philosophischen Meisterwerkes ‘Dialektik der Aufklärung’ zusammen. Die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer suchen nach Antworten auf die Frage, die sich die Intellektuellen im US-amerikanischen Exil stellten.

Martin Mittelmeiers Buch beleuchtet die Entstehungsgeschichte des Jahrhundertbuches: 'Dialektik der Aufklärung' indem er auch die Lebenswelt der im Exil lebenden Deutschen lebendig werden lässt. In seinem Buch 'Freiheit und Finsternis. Wie die Dialektik der Aufklärung zum Jahrhundert Buch wurde', spürt er den deutschen Intellektuellen nach. Max Horkheimer, Theodor W, Adorno, aber auch Bertolt Brecht oder Thomas Mann. Alle versammeln sich in Los Angeles. "Dort treffen sie auf etwas, was man auch Weimar unter Palmen nennen kann, weil dort eben verschiedene Generationen von Migrationsbewegungen stattfinden. Da ist zum Beispiel auch Hollywood, wohin ganz viele deutsche Regisseure und Schauspieler geflohen sind. Und so entsteht quasi diese Gemeinschaft auf engstem Raum", sagt Mittelmeier.

Die Vernunft nicht über Bord werfen

Diese intellektuelle Gemeinschaft fragt sich immer wieder: Wie konnte das in einer zivilisierten, aufgeklärten, vernunftbegabten Gesellschaft passieren? Wie konnten die barbarischen Nazis alle Macht in Deutschland an sich reißen? "Die erste These, die Horkheimer und Adorno haben, ist, wir brauchen die Vernunft! Es ist nicht der hipieeske Gedanke, gut, dann lass uns die Vernunft über Bord werfen - wir haben mit der Vernunft nur schlechte Erfahrungen gemacht', sagt Mittelmeier über die Vernunftskritik Adornos. "Nur darf die Vernunft nicht sich selbst überlassen werden. Sie muss quasi die Reflexion darüber, was ihr an Gewalttätigkeiten, an Herrschaftsformen inne ist, diese Reflexion muss sie zusätzlich leisten".

Der gnädige Gott des Christentums

Dabei jonglieren Adorno und Horkheimer mit großen Begriffen wie dem Gegensatzpaar von Natur und Vernunft, die der 'Dialektik der Aufklärung' auch diese enorme philosophische und rhetorische Wucht verleihen. "Es geht darum, wie sich die Menschheit emanzipiert von der Natur, der Dämonie, von den Gottheiten, die noch in den Urelementen sind, zu einer immer größeren Geistigkeit", erklärt Mittelmeier. "Daraus entwickeln Adorno und Horkheimer die Frage, wie sich Geist und Natur am Ende versöhnen können. Adorno sagt, die Idee des Christentums sei eine gute Idee, das Ersetzen des strafenden Gottes durch Gnade, dass es vielleicht ein letztes Opfer gibt, das Opfer für die Abschaffung des Opfers, des Gottessohnes, Jesus Christus".

Ideologien und Zerrbilder

Und doch weiß auch Adorno, dass das Christentum den Antisemitismus mit möglich gemacht hat, indem es ein Zerrbild des Jüdischen propagierte. Das, so ist der Philosoph überzeugt, liegt in der Doppelzüngigkeit und entsteht, wenn Schein und Sein aufeinanderprallen. "Das ist ja quasi, wie wir Adorno auch kennen. Das Anrennen gegen den Schein, den Schein von Versöhnung, der deswegen so schlimm ist, weil er der Realität nicht standhält. Also nicht nur deswegen, weil Versöhnung noch nicht stattgefunden hat, sondern weil in dem Fall, wo man Versöhnung behauptet, also in einer versöhnten Welt zu leben behauptet, es aber gar nicht tut, es dann zu Zerrbildern kommt", sagt Mittelmeier. Das bedeute dann, solange das Christentum nicht dazu geführt habe, dass wir in einer emanzipierten, solidarischen Menschheit leben, solange sei das Christentum immer in Gefahr, eben auch ideologisch zu sein und Zerrbilder zu erzeugen.

Die Gefahr des Populismus

In der 'Dialektik der Aufklärung' warnen Adorno und Horkheimer vor Ideologien, vor der Versuchung der Menschheit, sich in totalitäre Systeme und ins Populistische zu stürzen. Warnungen, die heute erschreckend aktuell sind. "Es ist die Gefahr der totalitären Systeme, der Zunahme von Antisemitismus, Populismen, alles das, was heute als Risiko, als Gefahr auch wieder im Schwange ist", fürchtet der Autor Mittelmeier. "Adorno und Horkheimer denken aber auch, dass es noch die andere Möglichkeit gibt. Wir müssen uns aber dafür entscheiden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Das vernünftige Handeln von einer Vielzahl von Menschen, die sich untereinander solidarisch verhalten und die in Summe so etwas ergeben wie ein starkes Gemeinwesen, also der starke, hilfreiche Staat im Gegensatz zum autoritären Staat und der Staat, das sind wir alle gemeinsam".


Quelle:
DR