Kirchentagspräsident Leyendecker zu Ethik im Journalismus

Lügenpresse, Donald Trump und die AfD

Eine ethische Krise im Journalismus sieht Kirchentagspräsident und Journalist Hans Leyendecker. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität werde oft überschritten. Ein Interview über Medienethik, Christsein und den Umgang mit Kritikern.

Leyendecker: Viel guter, aber auch viel schlechter Journalismus / © Sven Hoppe (dpa)
Leyendecker: Viel guter, aber auch viel schlechter Journalismus / © Sven Hoppe ( dpa )

DOMRADIO.DE: In welche Richtung entwickelt sich die Medienlandschaft in Deutschland? "Lügenpresse" skandieren manche auf Demonstrationen. Gleichzeitig sinken die Zeitungs-Auflagen. Viele junge Leute holen sich ihre Infos lieber im Netz. Eine ganze Branche ist im Umbruch. Viele fragen sich bange, wo das eigentlich noch hinführen soll. Der Investigativ-Journalist und Präsident des Evangelischen Kirchentags 2019, Hans Leyendecker, beklagt eine ethische Krise im deutschen Journalismus. Sie sagen, dass Journalisten heute häufig nicht den ethischen Standards genügen und häufig die Grenze zwischen Fiktion und Realität überschreiten. Bei welchem Thema haben Sie das in jüngster Zeit konkret beobachtet?

Hans Leyendecker (Investigativjournalist und Präsident des Evangelischen Kirchentags): Wir erleben es eigentlich alltäglich, dass wir Zuspitzungen machen, wo keine Zuspitzung sein darf, das es Eilmeldungen gibt, die eigentlich nichts Eiliges befördern und dass wir häufig die lauten Stimmen suchen. Wenn ich die Lage richtig sehe, ist es so: Wir hatten selten so viel guten Journalismus wie heute. Und wir hatten selten so viel schlechten Journalismus wie heute.

DOMRADIO.DE: Die Medien stecken in der Krise. Ist es nicht klar, dass der Druck, Storys zu produzieren und so auf sich aufmerksam zu machen, immer größer wird?

Leyendecker: Der war eigentlich immer da. Er war allerdings früher noch nicht so stark wie er heute ist. Man will bemerkt werden. Man möchte, dass die Menschen einen für wichtig halten. Das befördert zum einen ganz grässliche Geschichten und zum anderen auch sehr gute Geschichten - etwa, dass sich heute Journalisten zusammentun und so etwas wie Ökumene pflegen. Das heißt, man arbeitet mit anderen Netzwerken, mit anderen Medien in vielen Ländern zusammen. Das befördert ungewöhnliche Geschichten, die man früher so nicht hätte haben können - zum Beispiel Panama-Papers oder auch Football Leaks. Das hätte man früher so nicht hinbekommen. Ich glaube, das ist eine gute Entwicklung.

Aber andererseits gibt es eben auch dieses ständige "Beachtet mich bitte", "Ich bin doch wichtig" und "Nehmt das wahr, was ich da bringe". Und da ist halt sehr viel Zuspitzung dabei. Tatsächlich beobachten wir bei jungen Leuten auf der einen Seite, dass sie sich auch woanders informieren. Aber es gibt auch, wenn Medien das leisten können, einen Hang dazu, dass man etwa die Zeitung nicht mehr zu Hause lesen mag, aber eben digital. Da gibt es viele Beispiele in Europa und vor allem in den USA, wo Zeitungen wie die New York Times oder die Washington Post gerade durch die Decke stoßen, weil sie auch viel über einen Lügner und Betrüger informieren, nämlich über Donald Trump.

DOMRADIO.DE: Tatsächlich lebt der Journalismus in Deutschland ja auch von ganz, ganz vielen freien Mitarbeitern und Produktionsfirmen. Die können es sich oft nicht leisten, Aufträge aus ethischen Gründen abzulehnen. Haben Sie mal Geschichten aus ethischen Gründen abgelehnt?

Leyendecker: Ich war immer privilegiert. Ich war viele Jahre beim Spiegel, viele Jahre bei der Süddeutschen Zeitung und habe mir da natürlich immer wieder erlauben können zu sagen: "Diese Geschichte mache ich nicht" oder "Diese Geschichte habe ich jetzt anrecherchiert. Die ist völlig anders, es ist eigentlich keine Geschichte mehr" und habe dann die Finger davon gelassen. Das ist für einen jungen Journalisten, der vielleicht in einer wirtschaftlich schwierigen Situation steckt, deutlich komplizierter als es bei mir war und ist.

DOMRADIO.DE: Wenn jetzt Teile der Bevölkerung den traditionellen Medien gar nicht mehr trauen und dieses Wort von der "Lügenpresse" die Runde macht, nehmen Sie das ernst? Hat das einen wahren Kern?

Leyendecker: Das ist zum einen sehr übles und auch dummes Wort und wird häufig von denen ausgesprochen, von denen man sich fragt: Können die überhaupt lesen und gehen die tatsächlich auf die klassischen Medien überhaupt zu, oder leben die nur in ihrer Filterblase? Das heißt, dass sie nur Dinge an sich heranlassen, von denen sie meinen, dass sie richtig sind. Mir ist aufgefallen: Wenn man sich mit den Leuten beschäftigt, die einen beschimpfen und man geht auf sie zu, sind sie zum einen erschrocken und zum anderen sagen sie: Ja, ich habe nur mal sagen wollen. Also, sie sind persönlich greifbar, aber in der Masse eher schwer.

Andererseits ist es in ein paar Punkten richtig, dass man Medien stark kritisiert. Unter anderem geht es da um die Fehlerberichterstattung. Es gibt eine Kultur der Berichterstattung in den USA, wo man die eigenen Fehler stark korrigiert. Da haben wir ganz viel Nachholbedarf. Das heißt, so stehen Geschichten im Blatt, die so nicht stimmen, wo Details nicht stimmen, die Ungenauigkeiten haben. Da ist es schon die Aufgabe des Journalisten, das zu korrigieren und das auch erkennbar für den Leser, für den Hörer oder für den Zuschauer zu machen.

DOMRADIO.DE: Sie sind immer engagierter Christ gewesen. Hat das für Sie auch bei ihrer journalistischen Arbeit eine Rolle gespielt?

Leyendecker: Ja, das Christsein hat man ja nicht nur am Sonntag und nicht nur im Abendgebet, sondern das hat man im ganzen Leben. Und wenn ich so zurückblicke - ich bin jetzt 69 Jahre alt - dann muss ich sagen: Ich habe Zeiten gehabt in meinem Beruf, wo ich das Christsein manchmal vernachlässigt habe. Ich habe schwere Fehler gemacht, ich habe manchmal auch leichtsinnig gearbeitet und bin im Lauf der Jahre doch ein anderer geworden - das glaube und hoffe ich jedenfalls. Christen sind keine besseren Menschen, Christen sind keine besseren Journalisten. Aber sie haben es besser als andere, weil sie die Hoffnung haben. Und das trägt.

DOMRADIO.DE: Jetzt sind Sie Kirchentagspräsident. Inwieweit ist das für Sie ein Rollenwechsel und eine neue Erfahrung?

Leyendecker: Das ist eine ganz neue Erfahrung. Das ist riesig. Ich war immer Kirchentagsfan. Ich bin mit meiner Frau seit 1975 auf Kirchentagen unterwegs. Wir haben keinen Kirchentag ausgelassen. Ich war völlig verblüfft, als sie mich zum Präsidenten wählten. Die Situation war die, dass Frank-Walter Steinmeier gewählt war, dann aber Bundespräsident wurde. Und dann wählte man mich. In vielerlei Hinsicht sind das ganz neue Erfahrungen, die man macht - auch neue Aufgaben, die man so als Journalist nicht zu bewältigen hatte. Es ist ja immer so: Wenn man in das Alter kommt, denkt man: Welche Tür geht noch auf oder muss überhaupt noch eine Tür aufgehen? Und jetzt geht eine ganz große Tür auf. Und ich betrachte das bei allen Belastungen und Schwierigkeiten, die es mit so einem Kirchentag gibt, als ganz großes Geschenk Gottes, dass ich das machen darf und bin darüber sehr glücklich.

DOMRADIO.DE: Sie haben gesagt, dass Sie als Kirchentagspräsident dazu beitragen wollen, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. AfD-Vertreter sollen bei dem Kirchentag aber nicht dabei sein. Da fragt man sich natürlich: Sollte man nicht besser mit denen reden als über sie? Spaltet das nicht die Gesellschaft noch mehr?

Leyendecker: Wir haben ja ein Doppelbeschluss gefasst. Doppelbeschluss heißt: Vertreter sind eingeladen, an Gottesdiensten, Bibelarbeit und Ähnlichem teilzunehmen, aber sie kommen nicht aufs Podium. Und dass Sie nicht aufs Podium kommen, hängt schlicht damit zusammen, dass die AfD in großen Teilen eine rechtsextremistische, völkische Partei geworden ist. Ich weiß gar nicht, wen man da einladen soll. Kann man Herrn Gauland einladen, kann man Herrn Höcke einladen und warum soll man sie einladen? Das sind Nazis. Die reden wie Nazis, die denken offenbar wie Nazis. Und dann sind es Nazis.

Der Kirchentag ist entstanden, weil die evangelische Kirche große Versäumnisse hat - viel größer noch als die katholische - im Kampf gegen die Nazis. Und dieses "Nie wieder" ist für uns schon ein Wort. Und da will ich keine Leute auf dem Podium haben, die nazistische Ideologie preisen, heimlich verehren oder dulden.

Aber - das geht ein bisschen unter in der Diskussion: Wir wollen gleichzeitig AfD-Wähler und AfD-Sympathisanten in Foren haben. Das heißt, wir ein wollen ein Zeichen setzen: Repräsentanten der AfD sind auf Podien nicht willkommen. Aber wir wollen mit Leuten diskutieren und denen zuhören, die die AfD für die richtige Partei halten, die Pegida möglicherweise für gut halten. Das mit den Repräsentanzen sollte ein Signal sein: Jetzt ist Schluss mit diesem ganzen Mist. Es kommt ja eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen, wenn man auf die Funktionäre der AfD schaut. Und die brauchen wir nicht. Aber was wir diskutieren wollen, ist die Frage: Wieso hat sich diese Gesellschaft so gespalten? Und um diese Frage beantworten zu können, braucht man Leute, die sagen: "Ich habe mit dem anderen abgeschlossen. Mir hört keiner zu. Ich werde in meiner Lebensbiografie nicht genug beachtet." Es gibt ja viele Punkte, die Leute offenbar zur AfD bringen. Da ist ein harter Kern von Nazis, aber das sind auch andere und denen muss man zuhören. Und das werden wir machen.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Hans Leyendecker / © Friedrich Stark (epd)
Hans Leyendecker / © Friedrich Stark ( epd )
Quelle:
DR