Londoner Gemeinde vier Wochen nach Brexit-Entscheidung

Zukunftsmusik mit Dissonanzen

Vier Wochen ist es her, dass Großbritannien "Nein" zu Europa gesagt hat. Vor allem die Europäer, die auf der Insel leben, schauen gespannt auf die Austrittsverhandlungen: ein Blick in die deutschsprachige Gemeinde in London.

Nebulös: Wie geht es in Großbritannien nach dem Brexit weiter? / © Friso Gentsch (dpa)
Nebulös: Wie geht es in Großbritannien nach dem Brexit weiter? / © Friso Gentsch ( dpa )

domradio.de: Man könnte sie als die zwei "Eisernen Ladys" Europas bezeichnen. Am Mittwoch haben sich Kanzlerin Merkel und Großbritanniens neue Premierministerin Theresa May zum ersten Mal in Berlin getroffen. Hauptsächlich ging es nicht um den Brexit, aber zumindest hat die Kanzlerin ihrer neuen Kollegin zu verstehen gegeben, dass keine große Zeitnot besteht. Ewig solle es aber nicht bis zum Austritt dauern. Einen Monat ist das Brexit-Votum jetzt her. Hat sich die Stimmung bei Ihnen in England bereits etwas beruhigt?

Pater Christian Dieckmann (Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde St. Bonifatius in London): Grundsätzlich ist nach dem ersten Schock "Business as usual" eingekehrt. Natürlich laufen auf allen möglichen Ebenen jetzt die Fragen, wie es weitergehen wird. Aber de facto ist es so, dass noch keiner genau weiß, wie es in welcher Geschwindigkeit und in welchen Schritten weitergehen wird. Die normalen Lebensbedingungen haben sich ja in den letzten vier Wochen nicht geändert. Alles ist Zukunftsmusik. Was die Zukunft bringen wird, macht dem ein oder anderen Sorge oder ein mulmiges Gefühl.

domradio.de: Sie sind Pfarrer einer deutschsprachigen Gemeinde. Was sagt denn Ihre Gemeinde jetzt zum Thema Brexit?

Dieckmann: Die Gemeinde an sich ist recht einhellig der Meinung, dass die Entscheidung eine Katastrophe für Großbritannien selber und auch für die Gemeinschaft Europas ist. Wie wissen ja, dass die Stimmung in Deutschland grundsätzlich eher pro-europäisch ist als in Großbritannien. Von daher hätte unsere Gemeinde in großen Teilen ein anderes Abstimmungsergebnis befürwortet. Es geht allerdings auch so weit, dass unser englischer Mitbruder von einer der Kirchen, die wir benutzen, nach einem Sonntagsgottesdienst in einer der letzten vier Wochen einfach da war und angeboten hat, mit ihm über das Referendum zu sprechen. Da hat sich das eine oder andere Gespräch zwischen ihm und einigen Gemeindemitgliedern ergeben.

domradio.de: Sie haben den EU-Ausstieg sicher auch in ihren Predigten thematisiert, was sagen Sie da?

Dieckmann: Ich habe ihn nicht direkt in den Predigten thematisiert. Ich habe das Thema zwar grundsätzlich im Gottesdienst aufgegriffen, aber eher um auszudrücken, was die Menschen bewegt und bedrückt und was ihr Leben als Hintergrundfolie momentan ausmacht. Darum geht es ja auch im Gottesdienst, dass wir mit all den Sorgen und Nöten, die wir im Leben haben, vor Gott stehen können. Auf dieser Ebene ist es im Gottesdienst vorgekommen. Ob nun eine Abstimmung so oder so ausgeht, spielt zwar eine unmittelbare Rolle in der Aktualität der Geschehnisse, aber die Predigtthemen ändern sich für mich zumindest dadurch nicht.

domradio.de: Was denken Sie, wie wird es jetzt weiter gehen? Was wird das Brexitverfahren für Ihre Gemeinde und ihre Arbeit bedeuten?

Dieckmann: Auch da gilt: keiner weiß es im Moment. Alles sind Vermutungen auf mehr oder weniger seriösem Niveau. Man kann natürlich davon ausgehen, dass sich im Bereich der Finanzwirtschaft, die ja hier in London das wichtigste Standbein der Wirtschaft überhaupt ist, und wo viele unserer Gemeindemitglieder zum Beispiel als Mitarbeiter von internationalen Banken für ein paar Jahre tätig sind, ein paar Dinge verschieben.

Man wird eventuell für den europäischen Markt einen Standort außerhalb Londons aufbauen, vielleicht in Frankfurt. Deswegen könnten Mitarbeiter von hier abgezogen werden und dort hingeschickt werden. Das hätte natürlich Auswirkungen auf unsere Gemeinde mit Blick auf die Mitgliederzahl. Dann würde unsere Gemeinde nämlich schrumpfen. Das gleiche gilt auch für andere deutsche Institutionen hier in London, die sich darüber Gedanken machen müssen. Hier ist beispielsweise die deutsche Schule zu nennen, mit der wir in verschiedenen Bereichen sehr eng zusammenarbeiten.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Erstes Treffen: Premierministerin Theresa May und Kanzlerin Angela Merkel / © Soeren Stache (dpa)
Erstes Treffen: Premierministerin Theresa May und Kanzlerin Angela Merkel / © Soeren Stache ( dpa )
Quelle:
DR