Leipzig gedenkt Kirchensprengung von 1968

Kirche, Glaube und Vernunft

Überschattet von Kontroversen hat Leipzig am Freitag der Sprengung der Universitätskirche Sankt Pauli durch das SED-Regime gedacht. Nach einem Läuten aller Kirchenglocken um 10.00 Uhr, dem Zeitpunkt der Zerstörung am 30. Mai 1968, nahmen mehr als 1.000 Menschen in der Nikolaikirche an einem Gedenkgottesdienst teil. Eine Reportage.

Autor/in:
Christoph Strack
 (DR)

Ja, sagt die 81-Jährige, sie erinnere sich gut an diesen Tag: an die Sprengung der Leipziger Universitätskirche vor 40 Jahren. Und dann fängt sie fast an zu schluchzen, als sie den Schmerz schildert, auch die Sorge um die jungen Söhne bei den Protestaktionen.

Gut 1.000 Leipziger sind in der Nikolaikirche versammelt, als die Glocken des Gotteshauses und der anderen Kirchen in der Stadt um zehn Uhr zu läuten beginnen. Es ist der Zeitpunkt, als 40 Jahre zuvor der Sprengstoff den traditionsreichen Kirchenbau vernichtete, in dem der Reformator Martin Luther predigte und Johann Sebastian Bach die Orgel spielte. Das Gotteshaus störte bei der sozialistischen Neugestaltung des Stadtzentrums.

Die Erinnerung, so wirkt es an diesem Vormittag, lastet bis heute.
Noch vor Gottesdienstbeginn ruft ein Vertreter der Gemeinde am Mikrofon zum "Verzicht auf jedwede Form der Polemik" auf. Denn Leipzig streitet seit Jahren über den Neubau, der nicht mehr Kirche sein, aber ab die Kirche erinnern soll.

Sachsens evangelischer Landesbischof Jochen Bohl kommt in seiner Predigt bald auf die "religions- und kirchenfeindliche Ideologie" des SED-Regimes. "Die Macht wähnte sich im Besitz der Wahrheit." Für die Partei sei die Sphäre der Wissenschaft und der Vernunft mit der des Glaubens unvereinbar gewesen. "Das war ein Angriff auf den christlichen Glauben und jahrhundertealte Wissenschafts-Traditionen", sagt der Bischof. "Vor 40 Jahren", so schließt Bohl, "sollten Glauben und Wissen getrennt werden. Sie gehören aber zusammen. Eine Wand sollten wir nicht zwischen sie stellen."

Eine Wand - daran eskaliert der Streit. Im entstehenden Neubau des Paulinum, eines Kirche-Aula-Projekts, soll nach dem Willen der Universität eine Glaswand Aula und Andachtsraum trennen. Während sich der Kirchenraum leert, spricht eine Journalistin den Universitätsrektor, den Juristen Franz Häuser, auf die mahnenden Worte des evangelischen Bischofs zu Glaube und Vernunft an. "In der katholischen Theologie", meint der 62-jährige Westdeutsche prompt, gehe es beim Glauben stets um geoffenbarte Wahrheiten, aber in der Wissenschaft um die Suche.

Spätestens da wird deutlich, welche Gräben durch Leipzig gehen.
Minuten später versammeln sich einige Hundert am Bauzaun auf dem Augustusplatz. Einige hängen Blumen an den Zaun, wenige tragen Plakate, zwei Männer stemmen ein Transparent "Paulinerkirche - Innenausbau originalgetreu". Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) ist, entgegen einer Ankündigung, nicht gekommen. Auch Häuser bleibt fern.

Der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer, der die Sprengung als "Ulbricht'schen Talibanismus" bezeichnet, spricht von Rektoren, die "feige, arrogant oder ignorant" seien, und beklagt "ideologische Borniertheiten". Er redet lang und zu lang, aber die Menschen sind dankbar für viele gewaltige Worte. "Das Wort ist für die Welt da, nicht für die Kirchensteuerzahler."

Immer wieder das Thema Glaube und Vernunft. Erich Loest ist da, spricht aber nicht. Christian Führer, der frühere Pfarrer der Nikolaikirche, mahnt, christlicher Glaube und Wissenschaft gehörten zusammen. "Wenn man die Wurzeln kappt, lebt der Baum nicht mehr lange", meinte er und ruft zum Demonstrationszug auf. Startrompeter Ludwig Güttler weist jeden Kompromiss zurück und fordert - auch das will die Universität verhindern - die Einbindung all jener Reste der
1968 zerstörten Kirche, die Mutige damals sicherstellten. Auch Luthers Kanzel, auch den Altar.

Den meisten Beifall erhält Stefan Welzk, einer der ganz Mutigen, der
1968 die Politführung mit Protesten narrte und bald in den Westen floh. Der Neubau, sagt er, reduziere Gotik auf Designerelemente.
"Leipzig hat ein Recht auf eine angemessene Wiedererstehung dieses Symbols seiner Identität". Das sage er ausdrücklich als jemand, der keiner Kirche angehöre. Nicht jedes Wort versteht man. Manchmal kreischt Metall von der nahen Baustelle herüber. Die Universität wird im nächsten Jahr 600 Jahre alt. Es eilt. Sie braucht eine Aula.