Die Sprengung der Leipziger Paulinerkirche 1968 im Rückblick

"Wut und Trauer"

Am 30. Mai 1968 ließ die DDR-Führung die Leipziger Universitätskirche Sankt Pauli sprengen. Das im Zweiten Weltkrieg unzerstört gebliebene gotische Gotteshaus störte sie bei der "sozialistischen Umgestaltung" des Augustusplatzes zum politischen und gesellschaftlichen Zentrum der Messestadt. Alexander Ziegert (72) war damals junger Kaplan in Leipzig und in der Studentenseelsorge aktiv. In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erinnerte er sich am Dienstag in Dresden an Umstände der Sprengung.

 (DR)

KNA: Monsignore Ziegert, wie erinnern Sie sich an den 30. Mai 1968?
Ziegert: An diesem Tag war der Platz - wie schon seit einigen Tagen - weiträumig abgesperrt. Es wimmelte von Menschen. Ich stand auf einem Schutthügel nahe den Absperrungen inmitten einer bedrückten Menschenmenge und konnte die Sprenglöcher in den Mauern der Kirche gut erkennen. Am späten Vormittag erfolgte mit dumpfem Knall die Sprengung. Es stürzte der kleine Dachreiter in das zerbrechende Dach und die kippenden Mauern. Ich sah, wie Menschen weinten. Nun war geschehen, was ich nicht für möglich gehalten hätte in einer so bedeutenden Stadt.

KNA: Seit wann wussten Sie von den Plänen zur Sprengung?
Ziegert: Wenige Tage zuvor waren wir - Hellmut Puschmann, der spätere Caritas-Präsident, und ich als Kapläne der Propstei-Gemeinde - zum Rat des Bezirks bestellt. Unser Gegenüber wollte herablassend in Erfahrung bringen, welche Reaktionen es auf der Kirchenseite gäbe, wenn die Kirche zerstört würde. Da unser vorgesetzter Propst urlaubsbedingt abwesend war und wir vom Ordinariat in Bautzen eine klare Anweisung nicht erhalten hatten, konnten wir nur unsere Ratlosigkeit äußern.

KNA: Wie war die Stimmung in Leipzig?
Ziegert: Die Stimmung war unruhig und brodelnd. Seit Tagen kamen wir nur noch zur Bergung des Pfarr-Eigentums in die Uni-Kirche hinein.
Jeden Abend waren wir Zeugen unter protestierenden Einwohnern und Studenten. Es gab Gerüchte, dass die Studenten im Widerstand gegen die Polizei deren Hunde vergiftet hätten. Man konnte schon Angst bekommen.

KNA: Was bedeutete es für Sie, dass das politische System ein Gotteshaus einfach abräumte?
Ziegert: Wir hatten ja vom politischen System gelernt, dass es auf die kleine Kirche keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Bezeichnend war, dass die Verantwortlichen nicht mit dem kirchlichen Feiertag und einem Abendgottesdienst gerechnet hatten. Angesichts der wartenden Gemeinde wurde dann aber ermöglicht, dass diese letzte Messe stattfinden konnte. So haben wir Kapläne in knisternder Atmosphäre die letzte Messe dort gefeiert.

KNA: Wie häufig konnten Sie als Katholiken die Kirche nutzen?
Ziegert: Die katholische Propsteigemeinde war regelmäßige Nutzerin der Kirche, mehr als die evangelische Studentengemeinde, obwohl wir eigentlich nur Untermieter, wenn auch die treuesten, waren.

KNA: Ihre Gottesdienst-Angebote fanden Zulauf?
Ziegert: An jedem Sonntag und an jedem kirchlichen Feiertag hat unsere lebendige Propsteigemeinde die Kirche gefüllt. Auch Katholiken aus anderen Pfarreien der Stadt Leipzig kamen gerne hinzu.

KNA: Hat Ihnen irgendjemand der politisch Verantwortlichen etwas dazu gesagt, warum diese Kirche gesprengt wurde?
Ziegert: Nein, nichts. Wir haben, ehrlich gesagt, mit unserem unbedarften Kaplansgemüt auch nicht danach gefragt. Denn wir wussten ja auch nicht, dass der Termin der Sprengung längst feststand. Das wurde uns erst nach dem 30. Mai 1968 klar. Wir sollten wohl auch absichtlich im Dunkeln gelassen bleiben.

KNA: Wie reagierten die Menschen nach der Sprengung?
Ziegert: Wir hörten viele Worte der Wut und der Trauer. Das betraf auch längst nicht nur die Christen, es hatte sich eine politische Gemeinde gebildet, aus Leipzigern, Christen und Studenten, Ohnmächtigen und Rebellen, die gewissermaßen in ihre spätere Erhebung hineinwuchs. Jetzt lebten wir alle noch im Gefühl der Machtlosigkeit.

KNA: Gab es Unterstützung aus dem Westen, der Bundesrepublik?
Ziegert: Nein. Es hat uns wohl geschmerzt, dass die Sprengung der Kirche und unsere Proteste dagegen in den Tagen zuvor im Westen so wenig beachtet wurden.

KNA: Seit langem diskutiert Leipzig darüber, ob die Paulinerkirche wieder aufgebaut werden soll...
Ziegert: Bei der Frage bin ich neutral. Es käme zwar ein Wiederaufbau einer Ehrenrettung für Kirche und Uni gleich. Aber außer der Studentengemeinde sehe ich kirchliches Hinterland nicht mehr. Was jetzt entstünde, würde ich nur vor dem historischen Hintergrund wünschen, es wäre aber nicht die Auferstehung der damaligen lebendig-frommen Tradition. Aber gut wäre sicher, wenn es wieder eine stärker sichtbare Präsenz der katholischen Kirche in Leipzig gäbe.

Interview: Christoph Strack (KNA)