Lebensverhältnisse weiterhin ungleich in Ost und West

Deprimierende Bestandsaufnahme

20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung äußern sich deutsche Spitzenpolitiker nachdenklich über das bisher Erreichte. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von großen strukturellen Unterschieden und versprach Hilfe vonseiten des Bundes. Drei Tage vor dem Jahrestag der Wiedervereinigung befasste sich auch der Bundestag mit dem Thema.

 (DR)

Einig waren sich die Redner in der Feststellung, dass es immer noch keine gleichwertigen Lebensverhältnisse in Deutschland gibt. Über die Gründe dafür gingen die Meinungen jedoch weit auseinander.



Merkel sicherte den ostdeutschen Ländern die Unterstützung des Bundes zu, unter anderem für die Fachkräftesicherung, die Förderung betrieblicher Forschung sowie den Netzausbau zur Sicherung der Energieversorgung. Auch beim Thema Rentenangleichung in Ost und West versprach Merkel weitere Verhandlungen. Insgesamt seien die neuen Bundesländer aber auf gutem Weg zu einem selbsttragenden Aufschwung. "Der Osten hat vieles erreicht, die Arbeitslosenzahlen speziell in den neuen Bundesländer sind ermutigend", sagte Merkel.



Böhmer wirbt um Verständnis für Aufbau-Ost-Hilfen

Auch im Bundestag wurde der Wiedervereinigung gedacht. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) konstatierte in seiner Rede, die Wiedervereinigung sei ein "Wunder" gewesen. "Wir wollten die Freiheit und bekennen uns auch heute noch dazu", betonte er, fügte aber hinzu, die Kurzzeit- und Langzeitfolgen seien damals nicht absehbar gewesen. "Es war gut, dass wir damals noch nicht alles wussten", sagte der CDU-Politiker. Zugleich warb er um Verständnis für die noch immer notwendigen Hilfen beim Aufbau Ost.



Wie aus dem jüngsten Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit hervorgeht, ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Ostdeutschland zwischen 1991 und 2009 von 43 auf 73 Prozent des westdeutschen Niveaus gestigen. Die Löhne kletterten von knapp 57 Prozent auf 83 Prozent des westdeutschen Niveaus. Auch die Arbeitsmarktlage habe sich "erheblich verbessert", heißt es in dem Bericht.



Der FDP-Politiker Patrick Kurth betonte, dass alle Menschen in Deutschland die gleichen Voraussetzungen haben sollten, "um ein glückliches und selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Einheit führen zu können". Zugleich räumte er ein: "Wir werden aber keine gleichen Lebensverhältnisse in Deutschland hinkriegen."



Opposition macht Sozialpolitik für ungleiche Lebensverhältnisse verantwortlich

Vertreter der Opposition warfen der Bundesregierung vor, die ungleichen Lebensverhältnisse in Ost und West zu verschärfen. SPD-Fraktionsvize Dagmar Ziegler kritisierte insbesondere den Haushaltsentwurf der Bundesregierung und erinnerte daran, dass 37 Prozent des gesamten Sparvolumens auf den Bereich der Sozialpolitik entfielen, wodurch Ostdeutschland viel stärker getroffen werde als Westdeutschland. Ziegler stellte fest: "Wort und Tat stehen einfach nicht in Einheit."



Auch der Grünen-Abgeordnete Stephan Kühn hob hervor, von gleichwertigen Lebensverhältnissen sei Deutschland derzeit weit entfernt. Mit den herkömmlichen Rezepten könnten die Probleme Ostdeutschlands jedoch nicht gelöst werden. Linke-Chefin Gesine Lötzsch beklagte die Ausgrenzung ostdeutscher Eliten. Auch seien Errungenschaften des Ostens wie Kindertagesstätten oder Polikliniken für Westdeutschland nicht übernommen worden.



Kohl warnt vor Verklärung der DDR

Der frühere Linke-Parteichef Oskar Lafontaine stellte fest: "Wir sind ein Volk, was die Sprache, Kultur und Geschichte angeht. Wir haben nach zwanzig Jahren aber immer noch nicht einheitliche Lebensverhältnisse." Im Interview mit der Nachrichtenagentur dapd kritisierte der damalige SPD-Kanzlerkandidat in scharfer Form die damalige Entscheidung einer Währungsumstellung im Verhältnis 1:1 und warf der damaligen Regierung Kohl politisches Kalkül vor. "Ich kann entschuldigen, wenn man die Wirkungsweise einer Währungsumstellung nicht versteht. Unverantwortlich war es, die negativen Folgen der Währungsunion in Kauf zu nehmen, um die Bundestagswahl zu gewinnen."



Altkanzler Kohl verwies hingegen auf die enormen Fortschritte in den neuen Bundesländern seit 1989/90 und verteidigte sein damaliges Versprechen von "blühenden Landschaften". Der "Bild"-Zeitung sagte er: "Zwanzig Jahre Einheit stehen hier gegen den doppelten Zeitraum von über vierzig Jahren Misswirtschaft und Stasi-Spitzelstaat." Er bezeichnete es als "erschreckend", wie dies im Zeitablauf in Vergessenheit zu geraten drohe und die DDR "geradezu verniedlicht" werde. "Um es klar zu sagen: Die DDR war ein Unrechtsstaat. Wer etwas anderes behauptet, hat aus der Geschichte nichts, aber auch gar nichts gelernt", fügte Kohl hinzu.