Laut OECD-Studie geringer sozialer Zusammenhalt in der Türkei

Ein gespaltenes Land?

Die türkische Gesellschaft ist gespalten. Religiöse, konservative Türken bilden ein Lager - linke und säkulare Türken das andere. Das gegenseitige Misstrauen ist laut einer Erhebung der OECD groß. Das zeigt sich in Politik und im Alltag.

Autor/in:
Philipp Mattheis
Frauen mit Kopftuch / © Oliver Berg (dpa)
Frauen mit Kopftuch / © Oliver Berg ( dpa )

An nur wenigen Orten der Welt treffen zwei völlig unterschiedliche Lebensstile so brachial aufeinander wie im Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Im Viertel Tophane tragen die Frauen Kopftuch, die Männer Bärte und das gesellschaftliche Leben findet tagsüber in Teestuben statt.

Nur zwei Straßen weiter liegt das Ausgeh-, Schwulen- und Künstlerviertel Cihangir, in dem schillernde Gestalten die Nacht zum Tag machen. Viel zu sagen haben sich die jeweiligen Bewohner nicht. Manchmal kommt es zu Rangeleien - zum Beispiel während des vergangenen Ramadan, als sich fastende Muslime darüber erzürnten, dass ihre Nachbarn Bier tranken und dabei der neuesten Radiohead-Platte lauschten.

Großes Misstrauen untereinander

Dass zwei Bevölkerungsgruppen mit zum Teil diametral entgegengesetzten Lebensstilen in der Türkei leben, zeigt sich nicht nur in den Wahlergebnissen. So gewann Präsident Recep Tayyip Erdogan sein Referendum zur Verfassungsänderung im April denkbar knapp mit 51 Prozent. Es zeigte sich jüngst auch in einer Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zum sozialen Zusammenhalt. Die Türkei belegte einen der Schlussplätze. Nur elf Prozent der Türken stimmten der Aussage "Den meisten Menschen kann man trauen" zu.

Während die sogenannten "weißen Türken" - säkular-kemalistisch - Alkohol trinken, das Kopftuch ablehnen und eine Westausrichtung des Landes befürworten, sehen sich die "schwarzen Türken" - konservativ und religiös - als jahrelang unterdrückte Mehrheit des Landes, der seit der Machtübernahme der AKP im Jahr 2002 endlich Gerechtigkeit widerfährt.

Deutlich werden die beiden Narrative zum Beispiel an der Frauenerwerbsquote, die mit 33 Prozent im internationalen Vergleich sehr niedrig ist. Während säkulare Frauen chauvinistisch-sexistische Äußerungen von Spitzenpolitikern dafür verantwortlich machen und eine zunehmende Islamisierung der Gesellschaft beklagen, haben Kopftuchträgerinnen eine völlig andere Sicht: Schuld an der niedrigen Quote sei vielmehr das Kopftuchverbot aus den Achtzigerjahren, das 2008 von Erdogan aufgehoben wurde. Weil dadurch 70 Prozent aller Türkinnen von Stellen in der öffentlichen Verwaltung und im Bildungswesen ausgeschlossen gewesen seien, hätten sich viele ins Private zurückgezogen.

Während Linke und traditionell säkulare Türken zahlreiche Privatisierungen unter der AKP-Regierung kritisieren, weisen Befürworter darauf hin, dass dadurch erstmals viele Wirtschaftszweige für "schwarze Türken" geöffnet worden seien.

Geografische Unterschiede bei Wahlenergebnissen

Die Spaltung der Nation zeigt sich auch geografisch bei den Wahlergebnissen: Während die Küstengebiete und großen Metropolen wie Ankara und Izmir die Oppositionspartei CHP wählen, dominiert die AKP die anatolische Mitte des Landes und den Osten. Die ursprünglich säkulare Metropole Istanbul ist durch den Zuzug von Millionen Anatoliern gespalten.

Beide Gruppen miteinander zu versöhnen, ist nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 noch schwieriger geworden. Nach dem Referendum zur Verfassungsänderung im vergangenen April hofften viele, Präsident Erdogan würde nun einen Schritt auf das Nein-Lager zugehen, um die Gräben zwischen beiden Gruppen zu verkleinern. Stattdessen erwähnte er abermals die Wiedereinführung der Todesstrafe und schockierte die Wahlverlierer erneut.

Zur weiteren Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts trägt die Aushöhlung des Rechtsstaats bei. Mehr als 100.000 Menschen wurden nach dem Putschversuch verhaftet und suspendiert. Im "Rechtsstaatlichkeits"-Index des World Justice Project liegt die Türkei auf Platz 99 von 113 Ländern. Darin liegt ein weiteres Risiko: In Staaten, in denen das Vertrauen in den Rechtsstaat gering ist, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Verlierer einer demokratischen Wahl das Ergebnis nicht anerkennen.


Quelle:
KNA
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