Lale Akgün im domradio zur Köln-Rede des türkischen Premierministers Erdogan

"Er versteht unter Integration etwas anderes als wir"

16.000 Türken und türkischstämmige Deutsche feierten "ihren" Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag in der Köln Arena. Erdogan hat seine in Deutschland lebenden Landsleute aufgefordert, die Chancen in Deutschland zu nutzen und sich zu integrieren. Sie sollten schon im Kindesalter Deutsch lernen. Wer die Sprache nicht lerne oder erst in der Schule damit beginne, sei von Anfang an im Nachteil. "Erdogan versteht unter Integration etwas ganz anderes als wir", kritisiert Lale Akgün die Rede des türkischen Ministerpräsidenten im domradio-Interview.

Autor/in:
Tonia Haag
 (DR)

Das wurde auch deutlich, als Erdogan die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland davor warnte, ihre kulturelle Identität aufzugeben. "Niemand kann von Ihnen erwarten, dass sie sich assimilieren, denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschheit", betonte er. "Es ist euer natürliches Recht, euren Kindern eure Muttersprache beizubringen."

Paralleluniversum in der Köln Arena
Diesen Gegensatz gäbe es so nicht, erklärt dagegen Dr. Lale Akgün, Integrationspolitikerin der SPD. Jeder Mensch, der nicht im Heimatland seiner Eltern aufwächst, sei gleichzeitig integriert und assimiliert. In der Schule und am Arbeitsplatz fände Assimilation statt. Zuhause, im Privaten, eher Integration. Nur eine völlige Abschottung der Gesellschaft solle es nicht geben, so Lale Akgün. Genau das aber hätte man in der Köln Arena beobachten können. Man hätte das Gefühl gehabt, sich auf exterritorialem Gebiet zu befinden, beschrieb Lale Akgün die Stimmung am Sonntag in Köln. Es gab türkische Waren und sogar eine provisorische Moschee sei in der Köln Arena errichtet worden.

Premier Erdogan, der erst kürzlich türkische Gymnasien in Deutschland forderte, förderte diese Atmosphäre: "Ihr seid Türken, ihr bleibt Türken, ihr gehört zu uns", hätte Erdogan den Menschen zugerufen, berichtet Dr. Lale Akgün. Ihr gab diese Äußerung sehr zu denken. Erdogan sei mit dieser Botschaft in eine Lücke gestoßen, die durch Fehler in der deutschen Integrationspolitik entstanden sei. Wir, die Deutschen, hätten den hier lebenden Türken signalisieren müssen: "Ihr gehört zu uns, ihr seid hier Zuhause."

EU-Vollmitgliedschaft gefordert
Erdogan bekräftigte seine Forderung nach einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei. Eine Alternative dazu gebe es nicht. "Bitte verzögert diese Angelegenheit nicht mit fadenscheinigen Einwänden", sagte der türkische Ministerpräsident. Die EU solle zu einem Beispiel für die Brüderlichkeit der Zivilisationen werden. Die Türkei könne als Teil der islamischen Welt dazu beitragen. Zudem sollten die Verantwortlichen in der EU bedenken, dass es bereits heute rund fünf Millionen Türken in Europa gebe.

Mit Blick auf die Brandkatastrophe von Ludwigshafen, bei der neun Menschen türkischer Herkunft starben, forderte Erdogan eine umfangreiche Aufklärung der Ursache. "Es muss in alle Richtungen ermittelt werden", sagte der Ministerpräsident. Nur durch eine umfassende Aufklärung könnten sowohl türkische als auch deutsche Staatsbürger "im Herzen beruhigt werden".


Zugeständnisse an christliche Pilger
Vor seiner Rede in der Kölnarena war Erdogan mit Kölns Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) zusammengekommen. Dabei sicherte er Schramma seine Unterstützung für den geplanten Bau eines christlichen Pilgerzentrums im südtürkischen Tarsus zu, dem Geburtsort des Apostels Paulus. "Sobald die Kirche mit diesem Wunsch auf mich zukommt, werde ich mich dafür aussprechen - auch gegen meine Opposition", betonte Erdogan.
Schramma hatte dem türkischen Premier dieses Anliegen vorgetragen, für das sich der Kölner Kardinal Joachim Meisner einsetzt. Gleichzeitig bedankte sich Erdogan für Schrammas Unterstützung beim geplanten Bau einer Großmoschee im Stadtteil Ehrenfeld.

Mangelde Geborgenheit
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, rät der Bundesregierung zu verstärkten Integrationsbemühungen als Konsequenz aus dem Besuch von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Die Begeisterung für den türkischen Regierungschef sei auch auf ein mangelndes Gefühl der Geborgenheit bei Migranten zurückzuführen. Es gehe nun darum, die Herzen dieser Menschen "für Deutschland zurückzugewinnen".

Kolat bot Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an, gemeinsam eine ähnliche Großveranstaltung für türkische Mitbürger wie die von Erdogan in Köln zu organisieren. Dabei könne Merkel "positive Signale aussenden". Dass so viele Menschen am Sonntag zu Erdogan gekommen seien, zeige, "dass die Leute nach einer schützenden Hand suchen".

Fürsorgepflicht
Kolat kritisierte, die Bundesregierung sei in den vergangenen Jahren ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den türkischstämmigen Bürgern nicht gerecht geworden. Vielmehr gebe es eine wachsende Diskriminierung. Sinnvoll wäre jetzt eine Botschaft Merkels, dass sie gemeinsam mit den Migranten die Zukunft Deutschlands gestalten wolle und bereit sei, deren Wünsche zu beachten.

Zur Warnung von Erdogan vor einer "Assimilation" der Türken in der Bundesrepublik sagte Kolat: "Unser Lebensmittelpunkt ist Deutschland - und jegliche Politik muss sich daran orientieren." Er sage den hier lebenden Türken: "Werdet deutsche Staatsbürger, die auch ein Herz für die Türkei haben." Die Türkische Gemeinde sei "natürlich gegen Assimilation, aber für die Eingliederung in diese Gesellschaft". Dabei sei es völlig normal, zum Herkunftsland Kontakte zu pflegen.

Kolat sprach sich dafür aus, dass die türkische Sprache in den Schulen mehr Gewicht bekommt. Zwar müssten die Kinder die deutsche Sprache beherrschen. Zusätzlich sollte aber die Herkunftssprache gefördert werden. Dies sei auch mit Blick auf die Vielzahl von Firmen sinnvoll, die in der Türkei investierten und zweisprachiges Personal suchten.